Mit der deutschen Klimapolitik kann man manchmal fast Mitleid haben. Da verabschiedet die Bundesregierung kurz vor Toresschluss ein neues Klimaschutzgesetz mit dem Ziel der Klimaneutralität für 2045 und nimmt grünen Kritikern Wind aus den Segeln – und zwei Wochen später fordert der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU): "Über Klimaneutralität hinausdenken" – so jedenfalls der Titel des letzte Woche an Umwelt- und Forschungsministerium übergebenen Politikpapiers.
Über Klimaneutralität hinauszudenken heißt: Eine Netto-Null bei den Treibhausgasemissionen reicht nach Ansicht des Regierungs-Beirats nicht aus.
Um dem 1,5-Grad-Ziel noch eine Chance zu lassen, müssen für den WBGU die anthropogenen CO2-Emissionen sehr schnell gestoppt werden. Dazu müsse die Bundesrepublik "schnell und vollständig" aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas aussteigen und deren stoffliche Nutzung auf Fälle begrenzen, für die keine nachhaltigen Alternativen entwickelt werden können.
Was den vom Beirat geforderten schnellen Fossilausstieg betrifft, ist allerdings das Bundesumweltministerium der Ansicht, dass der Stromsektor schon vor 2045 "vollständig dekarbonisiert beziehungsweise kohlenstofffrei" sein muss, wie ein Ministeriumssprecher gegenüber Klimareporter° betont.
Das Jahr 2038 für den endgültigen Kohleausstieg stellt das Ministerium dabei nicht infrage. Der Sprecher verweist darauf, dass das Kohlebeendigungsgesetz die Möglichkeit vorsieht, den Ausstieg auf 2035 vorzuziehen. Zusätzlich könne der Kohleausstieg durch Preisentwicklungen am Energiemarkt aufgrund der neuen europäischen und deutschen Klimaziele beschleunigt werden.
Neu ist allerdings die Position des Ministeriums zur Zukunft des fossilen Erdgases. Dazu erklärt der Sprecher, es müsse "unser Ziel sein, in der Energiewirtschaft bis spätestens 2040 faktisch auf den Einsatz von Erdgas zu verzichten".
Übersetzt bedeutet das: In weniger als 20 Jahren dürfte kein Erdgaskraftwerk mehr laufen – auch nicht als sogenannte Backup-Kapazität, um die schwankende Stromerzeugung aus Windkraft und Photovoltaik auszugleichen.
Das stellt ehrgeizige Pläne der Strombranche infrage. Laut aktuellen Übersichten sind in Deutschland derzeit Erdgaskraftwerke mit mehr als 2.000 Megawatt Gesamtleistung im Bau oder geplant.
Technische CO2-Entnahme mit vielen Fragezeichen
Skeptischer sieht das Umweltministerium eine zweite Forderung des Beratergremiums. Um die zu geringen CO2-Einsparungen der Vergangenheit und in den kommenden Jahren auszugleichen sowie den absehbaren Erwärmungstrends entgegenzuwirken, sollten nach Ansicht des WBGU "technische Optionen zur dauerhaften CO2-Entfernung" offengehalten und erforscht werden.
Der Ministeriumssprecher bestätigt zwar auf Nachfrage, dass der WBGU empfehle, rechtzeitig auf die Entnahme von CO2 mit technischen Mitteln vorbereitet zu sein. Bei der Prioritätensetzung habe das Bundesverfassungsgericht aber deutlich gemacht, dass Klimaschutzlasten "nicht unverhältnismäßig" auf nachfolgende Generationen verschoben werden dürfen, betont er.
Deshalb stehe für die Bundesregierung die schnelle und nachhaltige Senkung der Treibhausgasemissionen an erster Stelle. Bei den negativen Emissionen habe der Aufbau von natürlichen Senken wie Wäldern und Mooren gegenüber der technischen CO2-Entnahme eindeutig Priorität.
Noch stünden die sogenannten technischen Senken auch gar nicht großtechnisch zur Verfügung, erklärt der Sprecher weiter. Zahlreiche komplexe Fragen seien bisher offen. Das betreffe die Eignung und das Potenzial der Technologien ebenso wie den Energie- und Flächenbedarf sowie die ökologischen Auswirkungen.
Bei der CO2-Lagerung sei beispielsweise zu klären, wie viel von dem Treibhausgas dauerhaft unwirksam bleibt. Bei allen Technologien seien Nutzungskonkurrenzen abzuwägen und mögliche Umweltrisiken auszuschließen.
Die Debatte, was Klimaneutralität wirklich bedeutet, hat mit dem WBGU-Papier zweifellos neue Nahrung erhalten.