Mitte 2024 soll "Longship" so richtig in See stechen. Dann startet im südnorwegischen Brevik in einer Anlage des deutschen Konzerns Heidelberg Cement die CO2-Abscheidung und -Speicherung, kurz CCS.
Rund 400.000 Tonnen CO2 – etwas weniger als die Hälfte der Emissionen der Zementfabrik – sollen abgetrennt, verflüssigt und auf ein Schiff verladen werden. Das nimmt dann Kurs nach Norden, wo das CO2 entladen und einige Kilometer von der Küste entfernt im norwegischen Festlandsockel versenkt wird.
Mit "Longship" plant die norwegische Regierung einen regen CO2-Verkehr in der Nord- und Ostsee. Zunächst zwei Tanker sollen Zement-, Stahl- und Chemiewerke, Raffinerien oder auch Kraftwerke entlang der Küsten abklappern, abgetrenntes CO2 einsammeln und zur ewigen Ruhe nach Norwegen bringen.
Unterm Festlandsockel ist Raum für 70 Milliarden Tonnen CO2, berichtete der norwegische Botschafter Petter Ølberg letzte Woche bei einer Präsentation des deutschen Lobbyverbandes Zukunft Erdgas, der sich jetzt Zukunft Gas nennt. Die Norweger haben in den Anrainerstaaten der beiden Meere bereits 350 potenzielle Interessenten mit Emissionen von jährlich 300 Millionen Tonnen ausgemacht, die ihr CO2 möglicherweise loswerden wollen.
In der Realität aber wird erwartet, dass zunächst vielleicht ein Dutzend Interessenten übrig bleibt, die pro Jahr etwa elf Millionen Tonnen CO2 unters Meer bringen lassen können. Anfänglich sollen vor der Küste 1,5 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr versenkt werden, erst zwei spätere Ausbauphasen sollen jeweils fünf Millionen Tonnen draufsatteln.
Die Norweger werben für ihr umstrittenes Projekt auch damit, dass sie beispielsweise im Sleipner-Gasfeld schon seit 25 Jahren CO2 unter den Meeresgrund verbringen und nie etwas passiert sei. Das für "Longship" zunächst ins Auge gefasste Meeresuntergrundgebiet in rund 2.600 Metern Tiefe ist auch kein altes, bereits ausgebeutetes Gas- oder Ölfeld, sondern besteht aus wasserführendem Sandgestein.
In diesem löst sich das verpresste CO2, was dem Wasser eine größere Dichte verleiht. So bleibe das "karbonisierte" Wasser – auch dank einer dicken Deckschicht – im Meeresgrund praktisch fest eingeschlossen, betont Sverre Overå, Direktor des CO2-Gesamtprojekts Northern Lights, zu dem "Longship gehört.
Lukrative "Übergangslösung"
Zwar sieht Botschafter Ølberg den "blauen" Wasserstoff nur als eine "Übergangslösung", bis die Nullemissionsgesellschaft da ist, zugleich bezeichnete er das fossile H2 mit CCS aber als einzige Technologie, mit der CO2-Emissionen aus der Schwerindustrie, besonders Stahl und Zement, entfernt werden könnten.
Damit umriss der Botschafter das geplante Geschäftsmodell recht genau. Die Hersteller von "blauem" Wasserstoff aus Erdgas wie zum Beispiel das in Nordrhein-Westfalen geplante Projekt "H2morrow" sind nur ein Teil der künftigen Kundschaft norwegischer CO2-Entsorger. Sie dürfen gern mit anderen um den Raum auf den CO2-Tankschiffen konkurrieren.
Die deutsche Gaswirtschaft hingegen präsentiert "Longship" praktisch als Königsweg, um "blauen" Wasserstoff für Deutschland zu gewinnen. Mit Wasserstoff könne das Gasnetz große Mengen erneuerbaren Stroms speichern und so eine Art "Batterie der Energiewende" sein, griff Zukunft-Gas-Chef Timm Kehler beim norwegischen Termin in die grüne Bilderkiste.
In Richtung Klimaneutralität müsse das Gas dabei "immer grüner werden" – und der Weg dahin sei die Nutzung von "blauem" und – nach Kehlers Lesart – klimaneutralem Wasserstoff.
Wie das norwegische "Longship" dabei helfen kann, blieb letzte Woche auch nach anderthalb Stunden Präsentation des Projekts recht unklar. Zum einen wegen der begrenzten Menge. Das gute Dutzend Millionen Tonnen versenktes CO2 liegt klimapolitisch eher im Promillebereich – gemessen an den 3,7 Milliarden Tonnen CO2, die die Europäische Union bis 2050 für Klimaneutralität wegbekommen muss.
Des Weiteren stellt "Longship" für das CO2 nur ein One-Way-Ticket aus. Eine Rückholung, um das CO2 in einer klimaneutralen Wirtschaft später einmal als Rohstoff zu nutzen, ist nicht vorgesehen.
"Blauer" Wasserstoff auf Umwegen wirtschaftlicher?
Und warum macht es Norwegen eigentlich so kompliziert? Das Land liefert ja selbst Erdgas in die EU. Das soll dort künftig offenbar zu "blauem" Wasserstoff verarbeitet und das entstehende CO2 dann aufwendig abgeholt werden. Warum wird das Erdgas wenigstens nicht gleich in Norwegen in "blauen" Wasserstoff verwandelt und das CO2 auf kurzem Wege unterm Meer versenkt?
Auf die Frage konnte Bjarne Bull-Berg vom norwegischen Gaslieferanten Equinor, der bei H2morrow mit von der Partie ist, bei der Präsentation keine überzeugende Antwort geben. Derzeit sei es nicht wirtschaftlich, Wasserstoff aus Norwegen per Pipeline nach Deutschland zu bringen, erklärte Bull-Berg. Eine Produktion von Wasserstoff vor Ort sei da besser.
Tatsächlich ist "grüner" Wasserstoff, der in südlichen Ländern wie Spanien und Italien mit Solarstrom hergestellt wird und dann in einer Pipeline nach Deutschland fließt, perspektivisch "mindestens genauso kostengünstig" wie der per CO2-Abscheidung gewonnene "blaue" Wasserstoff, schätzte Simon Schulte, Gasmarktexperte beim Energiewirtschaftlichen Institut an der Uni Köln (EWI), bei der Präsentation.
Schulte bezifferte dabei anfallende Restemissionen auf fünf bis zehn Prozent, die es "langfristig" zu vermeiden gelte. Richtig klimaneutral ist der "blaue" Wasserstoff bisher also keineswegs.
Im Kern interessieren die Norweger die Kosten des "blauen" Wasserstoffs aber gar nicht, denn den wollen sie nicht in die EU liefern. Ihr Maß für Wirtschaftlichkeit richtet sich nach dem CO2-Preis, den Industrie und Kraftwerke für ihre fossilen Emissionen im europäischen Emissionshandel zu zahlen haben, oder nach den Vermeidungskosten, die den Unternehmen beim Umstieg auf klimaneutrale Technologien entstehen.
Hier fällt die Entscheidung: Was ist preiswerter – Emissionszertifikate kaufen oder auf klimaneutrale Technik setzen oder das CO2 von "Longship" abholen lassen?
In einem "Longship"-Whitepaper der norwegischen Regierung vom Januar dieses Jahres findet sich dazu die Angabe, derzeit würden die Kosten für abgeschiedenes, transportiertes und gespeichertes CO2 aus einer Ammoniak-/Wasserstoffproduktion 39 Euro pro Tonne betragen. Für CO2 aus Müllverbrennung liege die Kostenschätzung bei 150 bis 200 Euro je Tonne. Wirtschaftlich rentabel könne das Verfahren werden, wenn etwa 40 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr abgeschieden und gespeichert werden.
Gasbranche will ihr Netz für Wasserstoff öffnen dürfen
Man kann sich fragen, warum sich die deutsche Gaswirtschaft für eine Technologie, die auf absehbare Zeit nicht verfügbar und nicht wirtschaftlich sein wird, so in Zeug legt. Möglicherweise ist der "blaue" Wasserstoff eher ein Vehikel, der aktuell wichtigsten Forderung der Branche Nachdruck zu verleihen: Wasserstoff ins bestehende Gasnetz einspeisen zu dürfen.
Das sieht die derzeit im Bundestag schmorende Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz nicht vor. Künftig soll es nach dem Willen der Bundesregierung nur reine Wasserstoffnetze mit eigener Regulierung geben.
Timm Kehler von Zukunft Gas fragte bei der "Longship"-Präsentation dann auch reihum Abgeordnete der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD – die Opposition war geladen, kam aber aus verschiedenen Gründen nicht zu Wort –, ob denn nun das Gasnetz in Richtung Wasserstoff geöffnet werde, um einen Marktzugang für "blauen" Wasserstoff zu sichern.
Andreas Rimkus, Klaus Mindrup (beide SPD) und Karl Holmeier (CSU) umschifften die Frage mehr oder weniger geschickt. Nur Timon Gremmels (SPD) und Mark Helfrich (CDU) sprachen sich dafür aus, die Gasnetze perspektivisch in Richtung Wasserstoff zu öffnen. Gremmels zeigte sich allerdings eher reserviert und meinte nur, darüber rede man derzeit mit dem Koalitionspartner und bleibe bei dem Thema "am Ball".
Allein Unionsmann Helfrich wurde etwas konkreter. "Blauer" Wasserstoff werde zumindest für eine "Übergangsphase" eine entscheidende Rolle spielen, sagte er. Man sei per se auch immer für CCS offen gewesen, auch wenn das Thema hierzulande historisch ein Stück weit verbrannt sei. Deswegen begrüße man die "Unerschrockenheit" der Norweger und hoffe, das diese in Richtung Deutschland ausstrahle.
Ob er die Öffnung des Gasnetzes für Wasserstoff ausdrücklich befürwortet, ließ aber auch Helfrich offen. Gern würde man Gas- und Wasserstoffnetze ganzheitlich behandeln, es gebe da aber Europa – und "hohe" verfassungsrechtliche Hürden, die Helfrich allerdings nicht näher benannte.
Um die zu prüfen, ist aber noch Zeit. Die Anhörung zu Wasserstoffnetzen soll der Wirtschaftsausschuss des Bundestages erst auf den 19. April terminiert haben.