Für die Industrie gilt wie für alle Sektoren: Es bleibt nur noch wenig Zeit, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Deshalb braucht es jetzt mutige Schritte, um die Industrie zu dekarbonisieren und erfolgreiche Modelle für klimaneutrales Wirtschaften zu schaffen.
Der Einsatz von Wasserstoff ist dabei ein Weg, um Treibhausgasemissionen in der Industrie zu vermeiden. Umso frappierender ist es, dass dabei die alten Ressourcen des fossil-nuklearen Energiezeitalters weiter gefördert werden sollen – unter dem Deckmantel vermeintlicher Zukunftstechnologien.
Das sei nötig, weil "grüner", erneuerbarer Wasserstoff noch lange knapp sein werde, heißt es. Aber ist das wirklich eine realistische Betrachtung? Diese Diskussion muss dringend geführt werden.
In einem offenen Brief haben die Anti-Atom-Initiative Ausgestrahlt und der Umweltverband BUND Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier jetzt aufgefordert, im Rahmen der geplanten Wasserstoff-Großprojekte ausschließlich erneuerbaren Wasserstoff zu importieren.
Anlass des Schreibens ist die geplante Förderung des Projekts Mosahyc, mit dem ein grenzüberschreitendes Wasserstoffnetz zwischen Deutschland, Luxemburg und Frankreich errichtet werden soll. Zu den Abnehmern soll auch der Konzern SHS/Saarstahl zählen. Dieser wiederum plant mit dem staatlich geförderten Projekt H2Syngas, Wasserstoff zur Stahlherstellung zu verwenden.
Dabei besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass die geplante Pipeline auch mit nuklearem Wasserstoff gespeist wird. Wie aus der Antwort auf eine schriftliche Frage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht, stellt die Bundesregierung es dem Nachbarland Frankreich frei, mit welcher Art von Wasserstoff die geplante Pipeline beliefert wird.
Die staatliche Förderung auf deutscher Seite, die es erlaubt, Wasserstoff egal welcher Herkunft und dessen industrielle Folgeprodukte zu verwenden, eröffnet der hoch verschuldeten französische Atomindustrie einen attraktiven Markt. Ein Blick in die französische Wasserstoffstrategie beweist, dass die Atomenergie dort das Rückgrat der Wasserstoffwirtschaft bilden soll.
In Anbetracht der geringen CO2-Intensität seines Strommixes bei einem Atomstrom-Anteil von rund 70 Prozent sei Frankreich ein besonders geeigneter Standort für die Erzeugung dekarbonisierten Wasserstoffs, heißt es dort. Bis 2030 will die französische Regierung 6.500 Megawatt an Elektrolysekapazitäten zur Wasserstoffproduktion aufbauen.
Dabei verfügt Frankreich aufgrund seiner Küstenlage sowie der Größe des Landes eigentlich über gute Bedingungen, um erneuerbare Energien auszubauen. Die Schaffung eines europäischen Wasserstoffmarktes könnte die Initialzündung sein, um dieses Potenzial konsequent zu erschließen.
Fragwürdige "Brückentechnologien"
Auch der Nationale Wasserstoffrat Deutschlands verpasste es kürzlich, einen klaren Schwerpunkt auf die Förderung erneuerbaren Wasserstoffs zu setzen. Stattdessen empfiehlt der sogenannte Wasserstoff-Aktionsplan nun die "Erzeugungs- und Anwendungsförderung" von fossilem Wasserstoff als eine Option, über die die neue Bundesregierung entscheiden soll.
Schlimmer noch: Bei der Transformation industrieller Anwendungen wird fossiles Erdgas als Brückentechnologie ins Spiel gebracht – auf unbestimmte Zeit. Für den Einstieg in die Dekarbonisierung "kann und wird zudem Erdgas eine zentrale Rolle spielen müssen", heißt es im Aktionsplan.
Auf neue Brückentechnologien zu setzen, ist bei Wasserstoff besonders fragwürdig – denn die klimaneutrale Alternative hat bereits heute die nötige technologische Reife. Eine kluge politische Priorisierung der Anwendungsbereiche für erneuerbaren Wasserstoff ist der richtige Weg, um die Nachfrage zu steuern und Knappheit zu vermeiden.
Verena Graichen
ist stellvertretende Vorsitzende des Umweltverbandes BUND. Im 26‑köpfigen Nationalen Wasserstoffrat ist sie eine von zwei Vertreterinnen zivilgesellschaftlicher Verbände. Beruflich forscht sie zu Energie- und Klimafragen beim Öko-Institut.Erneuerbarer Wasserstoff soll da zuerst eingesetzt werden, wo die CO2-Minderung am höchsten ist und wo jetzt Investitionen anstehen, die die Emissionen auf lange Zeit beeinflussen werden. Das ist vor allem in der Stahlindustrie der Fall.
Der Einsatz von Wasserstoff zur Direktreduktion von Eisen erfordert Investitionen in eine andere technologische Basis und Hochöfen haben eine lange Lebensdauer. Andere Anwendungen – etwa der Einsatz von synthetischem Kerosin im internationalen Flugverkehr – können dagegen im laufenden Betrieb umgestellt werden. Die chemische Industrie plant nach vorliegenden Angaben erst im nächsten Jahrzehnt größere Investitionen in die Dekarbonisierung.
Für die grüne Stahlherstellung werden in Deutschland im Jahr 2030 rund 20 Milliarden Kilowattstunden Wasserstoff benötigt, schätzen Industrievertreter:innen im Nationalen Wasserstoffrat. Allerdings liegt allein dieser mittelfristige Wasserstoffbedarf der Stahlbranche deutlich über der in der Nationalen Wasserstoffstrategie der Bundesregierung für 2030 geplanten Elektrolysekapazität von 5.000 Megawatt, mit der etwa 14 Milliarden Kilowattstunden Wasserstoff im Jahr erzeugt werden können.
Andererseits scheint sich der Markt weitaus schneller zu entwickeln, als es die Bundesregierung erwartet. Erst kürzlich vermeldeten die Ferngasnetzbetreiber, dass nach ihrer Kenntnis Unternehmen für 2030 bereits das Vierfache an Elektrolysekapazität planen würden. Ein Wasserstoffhochlauf aus heimischer Erzeugung sowie ohne Erdgas und Atomkraft scheint deshalb ein realistisches und greifbares Szenario zu sein.
Kosten für grünen Wasserstoff sinken
Die wesentliche Voraussetzung für ein ausreichendes Angebot an grünem Wasserstoff ist und bleibt der beschleunigte Ausbau zusätzlicher erneuerbarer Stromerzeugung. Dafür ist endlich eine stimmige Planung der Ausbaupfade notwendig.
Begleitend dazu muss die Wirtschaftlichkeitslücke zwischen erneuerbarem und fossilem Wasserstoff geschlossen werden. Die Größe dieser Lücke bezifferte der Thinktank Agora Energiewende kürzlich in einem Studienvergleich. Danach dürften sich die durchschnittlichen Kosten der erneuerbaren Wasserstofferzeugung von heute fünf Euro pro Kilogramm bis 2030 auf unter vier Euro reduzieren. Der politische Förderbedarf würde damit deutlich sinken.
Oliver Powalla
arbeitet beim BUND als Projektleiter im Kopernikus-Projekt Power‑to‑X. Der Energieexperte ist der "Sherpa" von Verena Graichen im Wasserstoffrat. Zuvor war er unter anderem Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Lisa Paus.Optimistischere Szenarien halten sogar eine Erzeugung von grünem Wasserstoff für unter zwei Euro pro Kilo zeitnah für möglich. Erneuerbarer Wasserstoff würde dann bis zum Ende des Jahrzehnts günstiger als solcher aus fossilen Quellen.
Aus der Szenarienpluralität ergibt sich in jedenfalls eine hohe Unsicherheit für diejenigen Unternehmen und Anleger:innen, die in blauen Wasserstoff und damit in Erdgas und CCS investieren möchten.
Sinken auch die Kosten für Elektrolyseure weiterhin stark oder durch Skaleneffekte sogar beschleunigt, sind hingegen die Perspektiven für eine dezentrale, flexible Wasserstofferzeugung sehr gut: Bei einem Preis von 160 Euro pro installierter Kilowattstunde Elektrolysekapazität wäre eine grüne Wasserstofferzeugung für unter zwei Euro pro Kilo selbst dann möglich, wenn die Elektrolyseure nur 1.500 Volllaststunden im Jahr in Betrieb wären.
Vor diesem Hintergrund sollte ein Pakt mit der Industrie zweierlei beinhalten: Die Stahlindustrie wird zum vorrangigen Anwendungsfeld einer klimaneutralen Wasserstoffwirtschaft erklärt. Andere Sektoren folgen in größerem Maßstab erst, wenn der Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland und Europa weiter fortgeschritten ist.
Im Gegenzug wird die Transformation der Schlüsselindustrie Stahl nach den höchsten Klima- und Umweltstandards organisiert. An der nötigen öffentlichen Förderung sollte dies nicht scheitern, die fällt bei Wasserstoff bekanntlich sehr großzügig aus.