Białowieża-Urwald
Ein Urwald ist aus rein ökonomischer Sicht wertlos. (Foto: Jacek Karczmarz/​Wikimedia Commons)

Der Weltbiodiversitätsrat IPBES hat am Montag das bislang ungewöhnlichste Sondergutachten vorgelegt: Darin geht es nicht um den Verlust von Tier- und Pflanzenarten oder wie sich dieser verhindern ließe, sondern um den Wert der Natur.

Wie entscheidend diese Frage ist, erklärt Inger Andersen, die Chefin des UN-Umweltprogramms: Die Natur "versorgt uns mit Nahrung, Medizin, Rohstoffen, Sauerstoff, Klimaregulierung und vielem mehr. Die Natur in all ihrer Vielfalt ist das größte Gut, das sich die Menschheit wünschen kann."

Aber das werde nicht geschätzt, so Andersen: "Ihr wahrer Wert wird bei der Entscheidungsfindung oft außer Acht gelassen. Das Lebenserhaltungssystem der Natur ist zu einer externen Größe geworden, die nicht einmal in der Buchhaltung auftaucht. Und so geht sie im Streben nach kurzfristigem Profit unter."

Das Problem liegt darin, dass Natur oft nur aus Sicht ihres direkten ökonomischen Nutzens betrachtet wird. Aus dieser Sicht ist ein Baum im Wald wertlos und wird erst wertvoll, wenn er etwa zu Zahnstochern verarbeitet wird.

Dabei werden viele Dimensionen des Werts dieses Baumes ignoriert. Der Baum hat CO2 aus der Luft gefiltert und als Kohlenstoff gebunden. Er hat anderen Arten als Lebensraum gedient, den Boden vor Erosion geschützt und Spaziergängern Freude bereitet. Und in manchen Kulturen hat er vielleicht auch eine spirituelle Bedeutung.

Insgesamt haben die 82 Wissenschaftler, die den Bericht erarbeitet haben, über 50 verschiedene Bewertungsmethoden für die Natur aus der ganzen Welt zusammengetragen und gruppiert. Dabei unterscheiden sie vier Werttypen der Natur: Man kann "von der Natur, in der Natur, mit der Natur und als Natur" leben.

Vier Werttypen

"Von der Natur" entspricht der ökonomischen Bewertung, in der zum Beispiel ein Fisch einen bestimmten Marktpreis hat. Die Flusslandschaft, in der der Fisch gelebt hat, kann aber auch ein beliebtes Naherholungsgebiet sein, in dem Menschen "in der Natur" sein können. Wer "mit der Natur" lebt, akzeptiert zudem, dass die Natur – und damit jeder Fisch – ein Recht auf Existenz hat.

Und wenn man schließlich "als Natur" lebt, dann sieht man die Erde und alle Lebewesen als ein kollektives Ganzes, eine Art Meta-Organismus, in dem das Wohlergehen eines Lebewesens vom Wohlergehen aller anderen abhängt. In dieser Weltsicht kann ein Wald oder ein Fluss eigene Rechte haben.

Aus europäischer Sicht mag dies ungewohnt sein, doch in Neuseeland entspricht dies bereits der Realität. Dort wurde dem Te-Urewera-Wald und dem Whanganui River per Gesetz zugestanden, eine Rechtsperson zu sein, die von zwei Sprechern vertreten wird.

Dies hat drei Konsequenzen: Der Wald und der Fluss können vor Gericht als Kläger auftreten. Außerdem können sie Verträge abschließen, und schließlich haben sie das Recht, Eigentum zu besitzen. Damit gehören sie sich selbst und nicht länger dem neuseeländischen Staat.

Doch was bringt das nun dem Artenschutz? Patricia Balvanera, eine Leitautorin des IPBES-Berichts, betont die Bedeutung der verschiedenen Bewertungsmethoden bei politischen Entscheidungen: "Die Verlagerung der Entscheidungsfindung auf die vielfältigen Werte der Natur ist ein wichtiger Teil des systemweiten Wandels, der notwendig ist, um die derzeitige globale Krise der biologischen Vielfalt zu bewältigen."

Neudefinition von Lebensqualität

Das habe weitreichende Folgen. Balvanera: "Dies bedeutet eine Neudefinition von 'Entwicklung' und 'guter Lebensqualität' und die Anerkennung der vielfältigen Beziehungen der Menschen untereinander und zur natürlichen Welt."

Oder anders: Wenn bei Entscheidungen die Optionen nicht länger allein anhand des ökonomischen Werts bewertet werden, dann ist "Entwicklung" nicht länger gleichbedeutend mit steigendem materiellem Wohlstand, sondern berücksichtigt auch den Wert von sauberer Luft, sauberem Wasser und einem intakten Ökosystem.

Damit die verschiedenen Wertesysteme angemessen berücksichtigt werden können, müssen alle von einer Entscheidung Betroffenen einbezogen werden.

Im Fall des Whanganui River wird dies durch einen Rat sichergestellt, in dem die verschiedenen Interessengruppen vertreten sind – vom Fremdenverkehrsverein über Umweltorganisationen bis zur Firma Genesis Energy, die über 80 Prozent des Flusswassers in ihrem Wasserkraftwerk nutzt.

Bisher geschieht so etwas nur in Ausnahmefällen. "Nur zwei Prozent der mehr als 1.000 untersuchten Studien konsultieren die Interessengruppen zu den Bewertungsmethoden, und nur ein Prozent der Studien bezieht die Interessengruppen in jedem Schritt des Naturbewertungsprozesses ein", sagte IPBES-Autor Unai Pascual vom baskischen Klimaforschungszentrum BC3 bei der Vorstellung des Berichts.

Ob sich das ändert, lässt sich womöglich schon bald sehen: Im November sollen die neuen Ziele für den globalen Artenschutz im kanadischen Montreal verabschiedet werden. Damit diese Konferenz ein Erfolg wird, wäre es hilfreich, wenn sich die Länder nicht nur über die Finanzierung von Artenschutz streiten, sondern auch anerkennen: Die Natur ist ein Wert an sich.

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