Europa hat das größte Schutzgebietsnetz der Welt. Umweltpolitiker sehen den Kontinent deshalb gut aufgestellt für den Klimawandel: Erwärmt sich die Welt, müssen viele Arten in kühlere Gefilde abwandern (siehe Teil 1) – und ein intaktes Schutzgebietsnetz sei die beste Voraussetzung dafür.
Makroökologen und Modellierer haben dieses Argument vor ein paar Jahren untersucht. Mithilfe von Artenverbreitungsmodellen fanden sie heraus, dass die meisten Wirbeltiere und Pflanzenarten in den europäischen Schutzgebieten schon im Jahr 2080 ungeeignete Klimabedingungen vorfinden könnten. Besonders in den oft kleinteiligen Natura-2000-Gebieten, die manchmal sogar schlechter abschnitten als die vollkommen ungeschützten Gebiete drum herum.
"Zukünftige Naturschutzanstrengungen sollten sich voll darüber im Klaren sein, dass sich die Verteilung der Biodiversität und der betroffenen Arten durch den Klimawandel dramatisch verändern wird und dass ein erhöhtes Aussterberisiko eine der möglichen Folgen ist", schrieben die Autoren um Miguel Araújo vom Nationalmuseum für Naturwissenschaften in Madrid.
Die neue Biodiversitätsstrategie der EU scheint das erkannt zu haben. "Der Schutz der Natur, den wir haben, wird nicht ausreichen, um die Natur wieder in unser Leben zu integrieren", heißt es darin.
Deshalb will Brüssel nicht nur das Schutzgebietsnetz erweitern, sondern auch mit ökologischen Korridoren verknüpfen, "um eine genetische Isolierung zu verhindern, die Migration von Arten zu ermöglichen und gesunde Ökosysteme zu erhalten und zu verbessern".
Konflikte werden dabei nicht ausbleiben. Mitte des Jahrhunderts müssen zehn Milliarden Menschen ernährt werden. Der Platz auf der Erde ist aber begrenzt. Und ausgerechnet diejenigen Landstriche, die in Zukunft besonders viele Arten beherbergen, werden in Zeiten des Klimawandels auch für den Menschen interessant. Wenn es zu heiß wird, müssen auch Bauern ihre Felder und Weiden in kühlere Regionen verlagern.
Sollen Schutzgebiete mit dem Klima wandern?
Das Ringen um die Frage, wo neue Schutzgebiete entstehen sollen, ist deshalb in vollem Gange – und das auch schon, bevor die Verhandler auf dem diesjährigen UN-Biodiversitätsgipfel in Kunming überhaupt beschließen könnten, insgesamt 30 Prozent der Landoberfläche bis 2030 unter Schutz stellen zu wollen und damit den Anteil der geschützten Flächen mehr oder weniger zu verdoppeln. Perspektivisch sind gar 50 Prozent bis 2050 angedacht.
Die meisten Ökologen fordern, vor allem dort zusätzliche Flächen für die Natur zu reservieren, wo die Artenvielfalt besonders hoch ist und besonders viele endemische Arten leben, also nur dort vorkommen. Zum Beispiel im Nordwesten des Amazonas-Regenwalds.
Allerdings argumentieren inzwischen auch viele Naturschutzbiologen, dass nicht nur die Flächen geschützt werden müssen, wo heute schon besonders viele Arten leben, sondern auch solche, wo die Arten in Zukunft zu finden sein werden – versehen mit einer Verbindung zwischen beiden Arealen, um die Wanderung der Arten zu ermöglichen. Für die USA wurden entsprechende potenzielle Wanderrouten bereits auf Karten festgehalten.
Manche Wissenschaftler wie Miguel Araújo schlagen sogar vor, in Zukunft bestimmte Schutzgebiete ganz aufzugeben, wenn sich die meisten der Arten, die dort geschützt werden, nicht mehr dort befinden. Dann gäbe es mehr finanzielle Kapazitäten, um neue Gebiete zu schützen, wo Pflanzen und Tiere in Zukunft Klimabedingungen vorfinden, unter denen sie leben können.
Letztlich wird die Frage, wo neue Schutzgebiete entstehen sollen, wohl auch nicht in Kunming entschieden. "Das wird den Staaten überlassen", sagt Landschaftsökologe Ralf Seppelt vom Leipziger Umweltforschungszentrum UFZ. "Ähnlich wie es im Pariser Klimaabkommen für die CO2-Reduktion geregelt ist."
Schützen oder nutzen oder beides?
Manche Beobachter halten eine andere Frage für noch entscheidender: Was gilt überhaupt als Schutzgebiet? "Es ist noch überhaupt nicht klar, was alles in den 30 Prozent einberechnet werden darf", kritisiert Florian Titze vom WWF. Von Gebieten, in denen die Natur sich selbst überlassen ist, bis zu Gebieten, die einen Schutzstatus haben, aber von Menschen bewirtschaftet werden, ist die Spanne sehr breit.
Deutschland ist da das perfekte Beispiel. 37 Prozent der Landesfläche sind bereits Schutzgebiete. Allerdings machen den größten Teil davon mit 28 Prozentpunkten die Landschaftsschutzgebiete aus, die Landwirte und Forstwirte unter nur geringen Auflagen nutzen dürfen.
Buch
Von Benjamin von Brackel erschien im April bei Heyne das Buch "Die Natur auf der Flucht. Warum sich unser Wald davonmacht und der Braunbär auf den Eisbären trifft. Wie der Klimawandel Pflanzen und Tiere vor sich hertreibt".
Das heißt, es dürfen auch Pestizide eingesetzt werden, und sogar eine teilweise Bebauung des Gebiets ist möglich, wenn der "grundsätzliche Charakter der Landschaft" nicht verändert wird.
Dagegen finden sich reine Wildnisgebiete, in denen die Natur sich selbst überlassen bleibt, gerade mal auf 0,6 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands, weit weg von den zwei Prozent, zu denen sich die Regierung verpflichtet hat.
"Entscheidend ist, welche Schutzgebietskriterien wir uns geben", sagt Florian Titze. "Denn Länder wie Brasilien werden sich daran orientieren."
Die EU-Biodiversitätsstrategie sieht 30 Prozent Schutzgebiete vor, wobei zehn Prozent unter strengen Schutz fallen sollen. Manche reichen Länder wie die Niederlande haben aber schlicht nicht mehr genügend schützenswerte Flächen, weil sie diese in der Vergangenheit ausgebeutet haben. Auf lange Sicht wird es hier auf Kompensationszahlungen hinauslaufen.
"Nicht ganz zu Unrecht werfen uns die Brasilianer vor, dass wir unsere ganze Biodiversität ja bereits kaputt gemacht haben", sagt Titze. "Und fordern deshalb hohe Ausgleichszahlungen."
Ohne Agrarwende geht es nicht
Ökologen warnen allerdings davor, sich nur auf Schutzgebiete zu konzentrieren. "Die Gefahr ist, dass sich in der Gesellschaft die Einschätzung durchsetzt: Jetzt haben wir die Hälfte der Flächen geschützt, dann können wir auf der anderen Hälfte ja machen, was wir wollen!", sagt Ralf Seppelt.
Um den Arten Raum für Erholung und Wanderung zu bieten, müssten alle Flächen auf den Prüfstand – auch die Nutzflächen. "Diese befinden sich schon heute am Kapazitätslimit."
Gemeint sind etwa Ackerwüsten, auf denen alles Leben mit Pestiziden ausgelöscht wird. Oder Einheitsforste mit starkem Holzeinschlag, wo auch kaum noch etwas lebt. "Wir sollten damit beginnen, die Nutzung wieder ein Stück weit herunterzufahren, und manche Flächen sogar überhaupt nicht mehr bewirtschaften."
Eigentlich war genau das in der EU-Biodiversitätsstrategie auch vorgesehen, etwa indem ein bestimmter Anteil der Ackerflächen für Pufferstreifen zum Artenschutz reserviert wird. Für Brachland, Hecken, Bäume, Teiche.
Die jüngste Reform der EU-Agrarpolitik aber blieb hinter den Erwartungen zurück: Der Großteil der Subventionen wird nach wie vor über die Flächenprämie verteilt. Den Landwirten wird damit umso mehr gezahlt, je effizienter sie werden.
80 Prozent der Agrarsubventionen sollen sich nach dem aktuellen Agrarreform-Entwurf weiterhin nur nach der Fläche richten, 20 Prozent hängen davon ob, ob der Landwirt diese Fläche auch nach Umweltkriterien bewirtschaftet. Bisher waren das fünf Prozent. "Das ist dem Problem überhaupt nicht angemessen", sagt Seppelt.
Ende unserer Serie zu den Wechselwirkungen von Klima- und Biodiversitätskrise. Alle bereits erschienenen Teile finden Sie hier.