Die EU will noch in diesem Jahr ihr Klimaziel für 2030 anheben. Das muss sie auch, denn im Rahmen des Pariser Klimaabkommens ist sie dazu verpflichtet. Die große Frage ist nur: Wie deutlich wird die Nachschärfung ausfallen?
Das aktuelle Ziel sieht bei den Treibhausgasen eine Minderung um 40 Prozent gegenüber 1990 vor. Im Gespräch ist nun ein Minus von 50 bis 55 Prozent.
So schlägt es die EU-Kommission im Rahmen ihres Green Deal vor. Und sie argumentiert: Mit einem starken 2030er Ziel ist es einfacher und kostengünstiger, das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Dieses haben die EU-Länder (außer Polen) bereits im Dezember 2019 beschlossen.
Unterstützung findet der Kommissionsvorschlag bei der Mehrzahl der EU-Staaten, darunter auch Deutschland und Frankreich. Allerdings ist für eine Entscheidung Einstimmigkeit erforderlich, und hier wird es schwierig. Länder wie Polen, Ungarn und Tschechien sträuben sich gegen eine Zielerhöhung. Neun Länder unterstützen 55 Prozent, zehn Länder 50 bis 55 Prozent.
Die unterschiedlichen Haltungen zeigten sich auch am gestrigen Dienstag wieder, als die EU-Umweltminister:innen sich zum informellen virtuellen Austausch trafen. Einige plädierten vehement für eine Verschärfung der Klimaziele, etwa Leonore Gewessler, die grüne Klima- und Umweltministerin Österreichs.
Andere beschränkten sich darauf, lediglich auf das Thema einzugehen, das die scheidende kroatische Ratspräsidentschaft vorgegeben hatte: Wie können Klima- und Umweltpolitik helfen, die Coronakrise zu bewältigen?
Genannt wurden: der Green Deal, das Klimagesetz, der Kreislaufwirtschafts-Aktionsplan, die Biodiversitätsstrategie, das "Do no harm"-Prinzip und weitere Vorschläge der EU-Kommission.
Um weitere Argumente aufzubauen, die schließlich sämtliche EU-Länder überzeugen können, arbeitet die Kommission derzeit an einer Folgenabschätzung eines höheren Klimaziels, sowohl für den Zielwert von 50 Prozent als auch den von 55 Prozent.
In diese Analyse, die Anfang September vorliegen soll, fließen auch die nationalen Energie- und Klimapläne für das kommende Jahrzehnt ein, die nach langer Verzögerung mittlerweile von allen Ländern (außer Irland) in Brüssel eingereicht wurden.
"Damit haben Sie schon sehr gute Vorarbeit geleistet", warb Vize-Kommissionschef Frans Timmermans, der ebenfalls an der Videokonferenz teilnahm, bei den Umweltminister:innen um Zustimmung. Die Energie- und Klimapläne seien eine gute "Roadmap" auf dem Weg in eine klimafreundlichere Zukunft, der größte Brocken an Arbeit quasi schon geschafft.
Machbarkeitsstudie stellt drei Szenarien vor
Ähnlich optimistisch ist eine Machbarkeitsstudie, die das Brüsseler Beratungsunternehmen Climact im Auftrag der European Climate Foundation vorgelegt hat. Das Papier wurde am Montag, einen Tag vor dem Minister:innentreffen, veröffentlicht.
Ergebnis: Die EU hat mehr Spielräume als gedacht. Bis 2030 könnte sie eine Reduktion um 55 Prozent schaffen, also den anspruchsvolleren Wert des aktuellen Vorschlags erreichen. Sogar 65 Prozent wären machbar. Dies fordern Umweltverbände sowie die Grünen im EU-Parlament. Bislang hat die EU erst 23 Prozent (Stand 2018) geschafft.
"Der Bericht bestätigt", so Climact, "dass es tatsächlich machbar ist." Allerdings sind alle drei Szenarien, die die Studie durchkalkuliert, mit erheblichen Anstrengungen verbunden.
Im 55-Prozent-Technologie-Szenario wird das Ziel von minus 55 Prozent Treibhausgasen 2030 und Klimaneutralität 2050 durch einen schnelleren Einsatz neuer Technologien erreicht. Tiefergehende Veränderungen des Lebensstils sind nicht nötig.
Im 55-Prozent-Lastenteilungs-Szenario ist es umgekehrt. Umfassende gesellschaftliche Veränderungen wie weniger Fliegen, mehr Carsharing oder auch eine gesündere Ernährung sind nötig. Dafür muss es bei den neuen Technologien nicht ganz so schnell gehen. Für Gesundheit, Biodiversität und Ökosysteme würde dies mit einem höheren Nutzen einhergehen.
Im 65-Prozent-Szenario müssten beide Ansätze gleichzeitig verfolgt werden.
Mehr Gebäudesanierung, weniger Fleischkonsum
Konkret bedeutet das beispielsweise, dass die Sanierungsrate bei Gebäuden steigen muss: in den 55-Prozent-Szenarien um 2,3 bis 3,4 Prozent pro Jahr bei Wohngebäuden und um jeweils 2,5 Prozent bei Nichtwohngebäuden, im 65-Prozent-Szenario jeweils um 3,5 Prozent. In ihrem Green-Recovery-Plan peilt die EU-Kommission an, die Sanierungsrate mindestens zu verdoppeln.
Oder: Stahl müsste in den beiden 55-Prozent-Szenarien zu 65 Prozent recycelt werden, beim 65-Prozent-Szenario müssten es 75 Prozent sein.
Auch die umstrittene CCS-Technologie (Carbon Capture and Storage) müsste in allen drei Szenarien im Industriesektor eingesetzt werden, mit einer Bandbreite von 24 beziehungsweise sieben beziehungsweise 17 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, die aufgefangen und unterirdisch abgelagert werden müssten.
Der Verzehr von Fleisch pro Person müsste sinken, um elf beziehungsweise 28 beziehungsweise 32 Prozent.
Auch beim Verkehr ist die Bandbreite groß. Im Technologie-Szenario müssten in zehn Jahren 88 Prozent der Neuwagen Nullemissionsfahrzeuge sein, der Rest Niedrigemissionsfahrzeuge wie Plug-in-Hybride.
Im Lastenteilungs-Szenario wären 60 Prozent der Neuwagen emissionsfrei und die Hälfte des Restes Niedrigemissionsfahrzeuge. Im 65-Prozent-Szenario müssten 93 Prozent der Neuwagen emissionsfrei sein.
Ein Kohleausstieg müsste in allen drei Szenarien bis 2030 fast vollständig geschafft sein. Ersetzt werden sollte die Kohle aber nicht durch Gas, sondern durch Wind und Sonne, heißt es in dem Papier.
"Der Weg ist steinig, aber gangbar"
"Die Studie veranschaulicht die politischen Optionen und hebt die Vorteile und Grenzen technologischer Optionen und gesellschaftlicher Veränderungen hervor", sagte Jérôme Meessen von Climact, einer der Hauptautoren des Berichts. "Das ist entscheidend, um Entscheidungsträgern zu helfen, die dringend nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Schäden durch den Klimawandel zu begrenzen."
"Die Analysen zum EU-Klimaziel zeigen: Der Weg zur Klimaneutralität ist steinig, aber möglich", sagte Kai Niebert, Präsident des Dachverbandes Deutscher Naturschutzring (DNR). "65 Prozent weniger CO2 bis 2030 sind selbst für den größten Wirtschaftsraum und drittgrößten CO2-Emittenten weltweit machbar."
Bundeskanzlerin Angela Merkel solle die am 1. Juli beginnende deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um Europa auf "einen angemessenen Beitrag zum Klimaschutz zu verpflichten und so ein klares Signal an die Welt zu senden: Europa wird grün", forderte Niebert.
Auch Christoph Bals von der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch lobte das Papier. Die Zustimmung bezieht sich aber auf den 55-Prozent-Zielwert. "Die Studie zeigt, dass ein EU-Klimaziel für 2030 von minus 55 Prozent zwar nicht einfach, aber auch kein Hexenwerk ist." Das sei Rückenwind für die deutsche Ratspräsidentschaft, um den Kurs in den anstehenden Verhandlungen auf mindestens 55 Prozent zu setzen, sagte Bals.
Für Wendel Trio vom Climate Action Network Europe bekräftigt die Studie die Forderung von Klimaschützern nach "dringenden Klimaschutzmaßnahmen". Deutliche Emissionssenkungen im nächsten Jahrzehnt seien der Schlüssel, damit das 1,5-Grad-Ziel des Paris-Abkommens nicht außer Reichweite gerate.