Den Ton für die heutige Präsentation der neuen Jahres-Klimabilanz hatte Wirtschaftsstaatssekretär Michael Kellner schon am gestrigen Donnerstag im Bundestag gesetzt. Die Lücke zu den Klimazielen für 2030 habe die Ampel weiter verringert, und das sei ein "riesiger Erfolg", konnte Kellner die gute Nachricht nicht zurückhalten.
Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) kostete am heutigen Freitagmorgen den Erfolg noch mehr aus. Die Projektion bis 2030 zeige erstmals, dass Deutschland auf Kurs sei, die Klimaziele eingehalten würden und Klimaschutz gelingen könne. "Klimaschutz und Wertschöpfung, Wachstum und Produktion und eine klimaneutrale Wirtschaft können zusammengehen", brachte Habeck die Botschaft auf den Punkt.
Er wiederholte auch sein seit Monaten vorgetragenes Zahlenwerk, laut dem die Ampel 2021 von der Vorgängerregierung eine riesige Klimalücke von 1,1 Milliarden Tonnen CO2 geerbt hat.
Die Zahl beschreibt die gesamte CO2-Menge, die Deutschland im Zeitraum von 2021 bis 2030 noch einzusparen hatte, damit die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes erfüllt werden und am Ende, also 2030, die Emissionen um 65 Prozent unter denen von 1990 liegen.
Mehrere hundert Millionen Tonnen CO2 "verschwunden"
Letztes Jahr zur selben Zeit hatte das Umweltbundesamt (UBA) der Politik noch bescheinigt, dass diese 1,1-Milliarden-Lücke zwar deutlich kleiner geworden war, aber immer noch mindestens 200 bis 300 Millionen Tonnen betrug.
An der Lücke kühlen seitdem vor allem Habecks Kritiker aus der Klima- und Umweltszene ihr Mütchen. Sie bemängeln, dass mit einer immer noch im Bundestag schmorenden Änderung das Klimaschutzgesetz entkernt werden soll, und sie klagen die Einhaltung der Klimaziele vor dem Bundesverfassungsgericht ein.
Heute konnte Habeck mit der Kritik aufräumen und überraschend frohe Kunde verbreiten: Die Lücke ist geschlossen. Und es kommt sogar noch besser: Die von ihm präsentierte und vom UBA erstellte "Treibhausgas-Projektion 2024" für den Zeitraum bis 2030 weist aus, dass Deutschland in dem ganzen Zeitraum sogar fast 50 Millionen Tonnen weniger emittieren wird als erlaubt.
Aus Habecks Sicht funktioniert auch die Idee der Ampel, dass künftig die Emissionen zwischen den Sektoren ausgeglichen werden dürfen. So wird der Bereich Energie laut der Projektion bis 2030 rund 175 Millionen Tonnen CO2 weniger ausstoßen als erlaubt – der Verkehr liegt dagegen um 180 Millionen Tonnen überm gesetzlichen Limit.
"Klimaschulden" werden auf dem Papier kompensiert
In den anderen Sektoren sieht das ähnlich aus: Die Gebäude überziehen bis 2030 um 32 Millionen Tonnen, während Industrie, Landwirtschaft und Abfall ihre CO2-Budgets um zusammen rund 80 Millionen Tonnen unterbieten. Die "Klimaschulden" in den Problemsektoren werden auf dem Papier also bestens kompensiert.
Das plötzliche Verschwinden von mehreren hundert Millionen Tonnen CO2 aus der UBA-Projektion des vergangenen Jahres ist natürlich erklärungsbedürftig. In Kurzfassung geht die heute vom Minister und dem UBA-Präsidenten Dirk Messner vorgetragene Erläuterung so: Die letztjährige Projektion habe für die kommenden Jahre mit zu hohen Erdgaspreisen kalkuliert und deswegen auch mit viel mehr Stromerzeugung aus Kohle gerechnet.
Das werde jetzt nicht in dem Umfang eintreten, weil die Gaspreise sich wieder dem Niveau von vor dem Ukraine-Krieg näherten. Zudem werde es dauern, bis sich die Industrie von den hohen Energiepreisen erholt hat, voraussichtlich bis 2028.
Auch rechnet die aktuelle Projektion mit hohen CO2-Preisen im europäischen Emissionshandel. Sollten diese nicht in dem Maße aufgerufen werden, könnten im Energiesektor bis 2030 auch leicht bis zu 50 Millionen Tonnen CO2 wieder hinzukommen, zeigt die UBA-Analyse allerdings auch.
Luftbuchungen bei Kohleausstieg und Landwirtschaft
So ist Habecks überraschend geschlossene Klimalücke zum einen eine ordentliche Wette auf die Zukunft und beruht zum anderen auch auf Luftbuchungen. So rechnet das UBA in den Energie-Szenarien mit einem weitgehenden Kohleausstieg bis 2030. Der ist in den Ost-Kohleregionen aber noch nicht sicher und wird von den dortigen Bundesländern bisher auch abgelehnt.
Für den Bereich Landwirtschaft weist die UBA-Projektion aus, dort würden in der Zeit bis 2030 fast 30 Millionen Tonnen CO2 weniger emittiert als erlaubt. Diese Einsparung findet weitgehend nur auf dem Papier statt.
Der Weltklimarat IPCC hatte vor einigen Jahren die Klimawirkung von Lachgas aus der Düngung neu bewertet und um fast 40 Prozent niedriger angesetzt. Die deutschen Agrarbetriebe "vermeiden" dadurch jährlich rund 6,1 Millionen Tonnen CO2.
Zwischen 2020 und 2030 kommen so rund 60 Millionen Tonnen an fiktiver CO2-Einsparung zusammen. Das räumt das UBA in der aktuellen Projektion auch ein: Durch die Änderung der Methodik ergebe sich eine "deutliche, rein rechnerische Unterschreitung", die sich über die Jahre aufsummiert, ist dort zu lesen.
Nicht berücksichtigt in der Projektion sind auch die jüngsten Milliardenkürzungen im Klima- und Transformationsfonds der Bundesregierung, gab UBA-Präsident Dirk Messner auf Nachfrage zu. Wie sich das konkret auswirkt, konnte er nicht beziffern.
Verkehr und Gebäude verfehlen EU-Vorgabe deutlich
Dass die enormen Mehremissionen aus dem Verkehr und auch den Gebäuden rechnerisch kompensiert werden, hilft Deutschland aber nicht dabei, seine Pflichten aus der europäischen Lastenteilung ("Effort Sharing") laut EU-Klimaschutzverordnung zu erfüllen.
Das deutsche Effort-Sharing-Ziel werde um 126 Millionen Tonnen verfehlt, warnt hier die heute vorgelegte UBA-Projektion. Bleibt es dabei und müsste Deutschland diese Mehremissionen, wie von der EU vorgeschrieben, durch den Kauf von Emissionsrechten ausgleichen, könnte das die Bundesrepublik bis zu zehn Milliarden Euro kosten – bei absehbaren Zertifikatspreisen um die 80 Euro für eine Tonne CO2.
Aus der Sicht von Habeck und den Grünen ist das vor allem auch eine erneute Warnung an die FDP. Der Koalitionspartner verweigert sich im Bundestag seit Monaten einer Lösung des Problems mit den europäischen Klimapflichten, legt selbst aber keinen Vorschlag vor, wie sich die Strafzahlung vermeiden ließe.
Für den Klimaforscher Niklas Höhne, Chef des New Climate Institute, verschleiert das gegenseitige Verrechnen, dass ein Aufholen beim Klimaschutz im Verkehr nach 2030 fast unmöglich wird, außer mit drastischen und disruptiven Maßnahmen wie extrem hohen CO2-Preisen oder Fahrverboten.
Ein Ausgleichen durch andere Sektoren sei nach 2030 auch nicht mehr möglich, so Höhne, da es für alle Sektoren immer schwieriger werde, noch die letzten Tonnen CO2 zu vermeiden.
Natürliche CO2-Senken liefern gar keinen Beitrag
Gänzlich verfehlt wird das Klimaziel im Bereich der sogenannten Landnutzungsänderungen. Anstatt durch Waldausbau oder wiedervernässte Moore wie im Klimagesetz vorgesehen im Jahr 2030 eine CO2-Senkenwirkung von 25 Millionen Tonnen zu erreichen, wird diese Senke dann nahe null liegen.
Das Landnutzungs-Ziel ist allerdings kein gesetzlich verpflichtendes, sondern nur ein politisch formuliertes. Insofern kann es unerreicht bleiben und das Klimaschutzgesetz ist dennoch erfüllt.
Viele Regeln der Klimabilanzierung helfen Deutschland gerade dabei, besser dazustehen. So schlägt sich die wieder zunehmende Fluglust der Leute nicht in der CO2-Projektion nieder, weil dort nur die Inlandsflüge berücksichtigt werden – und die gehen zurück.
Auch werden die Klimaemissionen aus trockengelegten Mooren, auf denen Ackerbau oder Grünlandwirtschaft betrieben wird, nicht dem Agrarbereich zugeschlagen, sondern dem Sektor Landnutzungsänderungen. Würden diese Emissionen damit nicht elegant beiseitegeschoben, wäre die Landwirtschaft plötzlich ein echter Klimakiller.
Wegen solcher Ungereimtheiten fordern Wissenschaftler schon seit Langem mehr Ehrlichkeit in der Klimabilanzierung. Dass die Politik dem nachkommt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Derzeit geht der Trend eher zum Schönrechnen.
Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Peinlicher Erfolg