Seit Wochen erzählt Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) vom "Erfolg des Klimaschutzes", zuletzt beim Demokratiefest Ende Mai in Berlin, bei dem 75 Jahre Grundgesetz gefeiert wurden.
Bei strahlendem Sonnenschein sprach Habeck beim Bürgerdialog über die riesige Klimalücke von 1.100 Millionen Tonnen CO2, die von der Vorgängerregierung hinterlassen und nun von der Ampel mehr als geschlossen worden sei. "Erstmalig sind wir auf Kurs und können die Klimaschutzziele 2030 einhalten", sagte der Vizekanzler. "Insofern ist eine Menge passiert."
Habeck stützt seine Erfolgsgeschichte auf die aktuelle Jahres-Klimabilanz des Umweltbundesamtes (UBA), die er selbst Mitte März vorgestellt hatte. Diese "Treibhausgas-Projektion 2024" fiel äußerst positiv aus. Nach den UBA-Berechnungen ist die Klimalücke nicht nur kleiner geworden, sondern hat sich in eine Übererfüllung verwandelt.
In den kommenden Jahren bis 2030 würde Deutschland demnach sogar fast 50 Millionen Tonnen CO2 weniger emittieren als nach den Vorgaben des Klimaschutzgesetzes erlaubt, wonach die Emissionen am Ende, also 2030, um 65 Prozent unter denen von 1990 liegen müssen.
Doch das von Habeck gezeichnete Bild bekommt nun tiefe Kratzer. Der Expertenrat für Klimafragen hat das Zahlenwerk geprüft – und widerspricht dem Minister.
"Wir gehen im Gegenteil von einer Zielverfehlung aus"
Die von Habeck verkündete Zielerreichung kann das unabhängige Gremium nicht bestätigen. "Wir gehen im Gegenteil von einer Zielverfehlung aus", sagt der Ratsvorsitzende Hans-Martin Henning.
Laut dem Sondergutachten, das der unabhängige Expertenrat am Montag vorgelegt hat, werden die Gesamtemissionen bis 2030 zwar "substanziell sinken". Allerdings, betont Henning, "vermutlich weniger stark als in den Projektionsdaten ermittelt".
Mit anderen Worten: Die Bundesregierung unterschätzt die Emissionen, die in vielen Sektoren – vor allem bei Verkehr und Gebäuden – in den nächsten Jahren voraussichtlich anfallen werden. Deutschland ist demnach keineswegs auf Kurs.
Fachleute hatten bereits im März gewarnt, dass Habecks Annahmen zu optimistisch seien. Darauf verweist nun auch der Expertenrat. Denn in die Berechnungen des Umweltbundesamtes flossen nur Daten bis zum Oktober 2023 ein, und diese sind mittlerweile teilweise überholt.
Das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts etwa erging erst danach, im November. Der Klima- und Transformationsfonds des Bundes verlor dadurch viele Milliarden, für wichtige Klimaschutzmaßnahmen fehlt nun das Geld.
Rats-Vize Brigitte Knopf nennt als Beispiel das Deutschlandticket. "Ihm wurde eine hohe Minderungsleistung zugeschrieben", erläutert sie, "doch jetzt ist die Finanzierung unsicher" – und damit auch die Annahme, dass viele Emissionen eingespart werden können.
"Für die Zeit nach 2030 fehlt eine langfristige Strategie"
Auch die Gaspreise dürften sich anders entwickeln als im Projektionsbericht des UBA angenommen, genauso die Preise im europäischen Emissionshandel. Dazu kommen laut Expertenrat "methodische Limitierungen", die ebenfalls zu Unterschätzungen führen.
Auch für die Zeit nach 2030 dämpft der Expertenrat die Erwartungen. Nach derzeitigem Stand, so das Fazit, wird Deutschland es nicht schaffen, bis zum Jahr 2045 auf netto null Emissionen zu kommen, auch nicht bis 2050. "Insgesamt", so sagt es Brigitte Knopf, "fehlt für die Zeit nach 2030 eine langfristige Strategie, wie das Ziel der Treibhausgasneutralität erreicht werden kann."
Eine solche Langfrist-Strategie mahnen nun Umweltorganisationen an. "Das Sondergutachten ist ein Weckruf an die Politik", sagt BUND-Chef Olaf Bandt. "Es rächt sich, dass die Bundesregierung bei ihrer Klimapolitik bislang so stark auf finanzielle Maßnahmen setzt. Jetzt fehlt das Geld, weil FDP und Kanzler auf Kaputtsparen statt auf Zukunft setzen."
Lutz Weischer von Germanwatch fordert eine Reform der Schuldenbremse. Die Maßnahmen des aktuellen Klimaschutzprogramms der Ampel seien "zu fast 50 Prozent Förderprogramme mit öffentlichem Geld. Wenn die Regierung es nicht schafft, die Finanzierung dieser Programme sicherzustellen, wird Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen."
Auch der Expertenrat mahnt zum Handeln. Das novellierte Klimaschutzgesetz – das aber noch nicht in Kraft ist – sieht zwar erst dann eine politische Nachsteuerung vor, wenn die Daten in zwei Jahren hintereinander eine Verfehlung der Klimaziele erwarten lassen.
"Doch es gibt immer noch eine Verpflichtung zu handeln", betont der Ratsvorsitzende Henning. "Wir empfehlen, dass die Bundesregierung nicht auf das abermalige Eintreten einer Zielverfehlung warten soll, sondern jetzt zusätzliche Maßnahmen prüft."
Durch die Novelle des Klimaschutzgesetzes sieht sich der Expertenrat indes gestärkt. "Vorher waren die Daten die Grundlage, nach dem neuen Gesetz ist es unsere Einschätzung und unsere Prüfung", erklärt Brigitte Knopf. "Das ist eine Stärkung unserer Rolle."
Laut neuem Gesetz kann das Gremium künftig selber Maßnahmen vorschlagen und mit Gutachten und Stellungnahmen auf mehr Tempo und Ehrgeiz beim Klimaschutz dringen.
Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Der Kampf um die klimapolitische Glaubwürdigkeit