Das Thyssen-Krupp-Stahlwerk am Rhein in Duisburg ist die Industrieanlage mit dem höchsten CO₂-Ausstoß in Deutschland. 2050 soll der Stahl klimaneutral produziert werden – mit Wasserstoff. (Bild: Rusłan Taran/​Shutterstock)

Wird der deutsche Emissionshandel für das vergangene Jahr bilanziert, ist es nicht so einfach, das Neue und Interessante herauszukitzeln. Die groben CO2-Trends von 2022 sind schon aus diversen Statistiken bekannt: Die Energiewirtschaft stieß mehr Treibhausgase aus, weil Erdgas teuer und knapp war und die Kohle in die Bresche sprang.

Die energieintensive Industrie dagegen blieb 2022 unter dem Emissionsniveau des Vorjahres, konkret um sechs Prozent. Wegen des Krieges gegen die Ukraine und der knappen wie teuren Energie wurde Produktion heruntergefahren, etwa bei Stahl, Zement, Chemie oder Papier.

"Die einzige Industriebranche, deren Emissionen 2022 zunahmen, sind die Raffinerien", erläuterte Alexandra Zirkel von der Deutschen Emissionshandelsstelle (DEHSt) in Berlin vergangene Woche bei der Vorstellung der Emissionsbilanz. "Das Plus liegt verglichen mit 2021 bei vier Prozent."

Ursache sei vor allem eine steigende Nachfrage nach Treibstoffen, vor allem nach Kerosin, so Zirkel weiter. Nach dem Ende der Covid-19-Pandemie sei wieder mehr geflogen worden.

Im Luftverkehr lagen die Emissionen 2022 bei 7,2 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent und damit deutlich über den 4,6 Millionen Tonnen des Vorjahres, aber immer noch unter dem Vor-Pandemie-Niveau von neun Millionen Tonnen (2019). Berücksichtigt wird hier nur die Klimawirkung der Flüge im Inland.

Insgesamt erfasste der EU-Emissionshandel in Deutschland letztes Jahr 354 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent, das sind 47 Prozent aller inländischen Emissionen. Ein Drittel steuerten dazu allein die acht noch laufenden großen Braunkohlekraftwerke bei.

CO2-Handel bestimmt über Zukunft der Kohle mit

Die Zukunft der fossilen Stromerzeugung wird maßgeblich vom Emissionshandel mitentschieden. So hat das Bundeswirtschaftsministerium in seinen Antworten auf die berühmten 77 Fragen der FDP die Emissionen der Kohleverstromung für 2030 schon mal eben auf null gesetzt.

Die Hoffnung dabei: Ein steigender CO2-Preis im Emissionshandel macht die Kohle auch dort relativ schnell unwirtschaftlich, wo noch kein Ausstieg bis 2030 politisch beschlossen ist wie mit dem RWE‑Deal.

Hier könnte die EU helfen. Der Staatenbund will seine Klimaemissionen bis 2030 um 55 Prozent unter den Stand von 1990 senken. Dazu wurden in der jetzigen vierten Handelsperiode, die von 2021 bis 2030 läuft, die Regeln des Emissionsmarktes endlich verschärft.

Seit dem Start des Emissionshandels 2005 war die Menge der verfügbaren Emissionszertifikate, der sogenannte Cap, fast immer größer als die Menge der tatsächlichen CO2-Emissionen, für die Energiewirtschaft und Industrie Zertifikate vorweisen mussten – entweder am Markt gekaufte oder kostenlos zugeteilte.

Viel zu viele Zertifikate im Markt

"Wir hatten erhebliche Zertifikats-Überschüsse im Markt", bestätigt auch Jan Weiß von der DEHSt. Nach deren Angaben lag der jährliche Überschuss zum Start der vierten Handelsperiode noch immer bei etwa 200 Millionen Zertifikaten.

Über die Jahre hat sich auch einiges angesammelt. Im aktuellen Zertifikate-Markt beträgt der gesamte Überschuss bei etwa 1,1 Milliarden Tonnen. Zum Vergleich: Alle handelspflichtigen Anlagen in der EU emittierten 2022 zusammen rund 1,3 Milliarden Tonnen CO2.

Weitere Zertifikate für drei Milliarden Tonnen waren bis Ende 2022 in eine "Marktstabilitätsreserve" geschoben worden, damit der CO2-Preis nicht verfällt.

"Es ist ein Problem, wenn die Caps, also die Ziele bei der Emissionsreduktion, in den vergangenen Jahren stets über der Entwicklung der realen Emissionen lagen", beschreibt Jan Weiß das grundlegende Problem.

Das dürfe man aber nicht dem Instrument des Emissionshandels zur Last legen, betont der Experte. Ursache seien die mangelhaften politischen Ziele zur Emissionsminderung. Hier habe sich ein enormer politischer Handlungsbedarf aufgebaut.

Ab 2025 könnten Emissionsrechte knapper werden

Nach langen Debatten hat die EU inzwischen auch gehandelt. Zunächst wurden Anfang des Jahres etwa 2,5 Milliarden Zertifikate in der Marktreserve endgültig gelöscht. Der Bestand sank auf rund 500 Millionen Emissionsberechtigungen.

Außerdem gibt es für den Handel selbst neue Obergrenzen. So dürfen 2030 innerhalb des EU-Emissionshandels nur noch maximal 800 Millionen Tonnen CO2 emittiert werden – deutlich weniger als die aktuellen 1,3 Milliarden Tonnen.

In den nächsten sieben, acht Jahren müssen die jährlichen CO2-Emissionen also um rund 500 Millionen Tonnen sinken, rechnet Jan Weiß vor.

Für den Experten stellen die neuen Caps, die in der aktuellen vierten Handelsperiode gelten, eine "klimapolitische Zeitenwende im Emissionshandel" dar. "Wir kommen jetzt in eine Phase struktureller Knappheiten im Emissionshandel", betont Weiß.

Prognose-Grafiken der Emissionshandelsstelle zeigen, dass sich diese strukturelle Knappheit ungefähr ab 2025 einstellen könnte.

Mit den jetzt vereinbarten Zielen im EU-Emissionshandel ist die fossile Energieerzeugung ganz klar ein Auslaufmodell, und das betrifft sowohl Kohle als auch Erdgas, ist sich zumindest DEHSt-Experte Weiß sicher.

Prognosen zum CO2-Preis bleiben schwierig

Wie sich die neuen Regeln konkret auf den CO2-Preis und die CO2-Reduktion auswirken, lässt sich aber nur schwer voraussagen. Auf dem Markt sind auch Finanzinvestoren am Werk, die je nach Gewinnerwartung Zertifikate kaufen oder verkaufen und den CO2-Preis so nach oben und unten "verzerren" könnten.

Des Weiteren haben sich viele Unternehmen, die handelspflichtige Anlagen betreiben, zu Zeiten niedriger CO2-Preise Vorräte an Zertifikaten zugelegt – wie groß diese sind, ist nicht bekannt. Ein Verfallsdatum für die Emissionsrechte gibt es bisher nicht.

Und nicht zuletzt werden Kraftwerke und energieintensive Industrie noch auf Jahre mit kostenlosen Zertifikaten bedacht. Deren Anteil lag im Energiebereich 2022 bei zwölf Prozent, woraus vor allem die Miterzeugung von Wärme gestützt wird.

Die energieintensive Industrie in Deutschland erhält sogar die meisten Zertifikate weiter kostenlos. 2022 bestritt sie damit 87 Prozent ihrer handelspflichtigen Emissionen.

Erst 2034 sollen die kostenlosen Zuteilungen auslaufen. Gleichzeitig soll die Industrie ab 2026 durch den CO2-Grenzausgleichsmechanismus CBAM vor Klimadumping aus dem Ausland geschützt werden. Der Grenzausgleich soll den CO2-Preis importierter Waren an den Preis für CO2-Zertifikate angleichen, die europäische Firmen im EU-Emissionshandel erwerben müssen.

Man kann sich natürlich fragen, was für Kosten entstehen, wenn die meisten Zertifikate kostenlos zugeteilt werden. Die Unternehmen antworten dann immer, sie müssten die Zertifikate aus bilanztechnischen Gründen zu den Wiederbeschaffungskosten einpreisen. Das mag so sein, ist aber auch Grundlage für sogenannte Windfall-Profits, leistungslose Gewinne.

"Dass die kostenlose Zuteilung für die CBAM-Branchen erst 2034 ausläuft, ist letztlich ein politischer Kompromiss. Aus unserer Sicht hätte das Datum auch früher liegen können", meint zumindest Daniel Klingenfeld, Abteilungsleiter in der Deutschen Emissionshandelsstelle.

Dann wäre die Zeit der Überschüsse vermutlich auch eher zu Ende gegangen.