Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, vor 25 Jahren wurde der Koalitionsvertrag der ersten rot-grünen Bundesregierung unterzeichnet. Mit ihr verbinden sich das Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Ökosteuerreform und die Einführung des Emissionshandels. Wie sehen Sie das Erbe von Rot-Grün heute – als ökologische Initialzündung oder als vertane Chance für eine Transformation?

Michael Müller: Noch nie war ich derart enttäuscht über die Umwelt- und Naturschutzpolitik wie heute. Wie dick waren die Backen der Grünen beim Start der Ampel-Koalition aufgeblasen, aber es kam nur ein sehr dünnes Lüftchen heraus.

Es fing schon mit der Demontage des Umweltministeriums an, das von den Grünen zu einem Randministerium herabgestuft wurde. Seine Schwächung kann es auch nicht ausgleichen mit wichtigen, längst überfälligen programmatischen Beiträgen zur Naturvergessenheit, zur sozialen Einordnung der ökologischen Modernisierung, zu den ökologischen Grenzen des Wachstums, zum Verständnis der sozialen und natürlichen Mitwelt und anderem.

Der Schlamassel begann schon mit der Aufteilung der Klimapolitik, dem Herzstück des Bundesumweltministeriums in den vergangenen Jahren, auf drei Ministerien. Die Folge war eine Schwächung der ökologischen Politik und nicht ihre Stärkung.

Ich verstehe nicht, warum das Umweltministerium nicht gestärkt wurde hin zu einem Nachhaltigkeitsministerium mit weitreichenden Vetorechten gegen eine nicht nachhaltige Politik.

Ich verstehe nicht, warum Selbstgerechtigkeit à la Patrick Graichen – ehemals Wirtschaftsstaatssekretär – zur grünen Alltagskultur wurde anstelle eines gesellschaftsreformerischen Modells.

Ich verstehe auch nicht, warum die Grünen mit ihrem politischen Anspruch nicht über die Grenzen unseres Erdsystems und damit kritisch über wirtschaftliches Wachstum und technischen Größenwahn reden.

Und wo bleibt die Debatte über Suffizienz? Die heutigen Grünen sind scheinbar selbst ein Teil des Größer, Höher und Weiter geworden, zunehmend eine grün angestrichene liberal-konservative Partei.

Und schon gar nicht verstehe ich, dass sie so wenig über Frieden für Mensch und Natur sprechen.

Natürlich kann man als Ausrede sagen: "Schaut euch die anderen Parteien an." Das ist richtig, aber keine Entschuldigung für eine Partei, die für sich in Anspruch nimmt, Vordenkerin grüner Politik zu sein.

Die Erneuerbare-Energie-Revolution schreitet mit bemerkenswerter Geschwindigkeit voran. Der jüngste Bericht der Internationalen Energieagentur IEA spricht von einem unaufhaltsamen Vormarsch der Erneuerbaren. Werden wir bald billige grüne Energie im Überfluss haben?

Seit dem Beginn der "Erneuerbaren-Revolution" in Deutschland, also mit dem Stromeinspeisegesetz und dem EEG, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, erlebte ich immer nur, dass die reale Entwicklung die Prognosen übertraf.

Meist wurde das in den Ministerien als Warnung verstanden und als Aufforderung, auf die Bremse zu treten. Das ursprünglich beschlossene Erneuerbare-Energien-Gesetz war klarer und engagierter. Aber das war nicht im Interesse der großen "Stromer". So wurden wichtige Triebkräfte ausgebremst wie die Bürgerenergie. Hinzu kamen immer neue Sonderregelungen.

Wir könnten als noch viel weiter sein. Entscheidend sind die Schwächen in der Infrastruktur. Ich halte die "Ideologie" von den großen Überlandleitungen für falsch und war immer für eine dezentrale Struktur, auch bei den Netzen.

Ebenso geht es mit den Speichersystemen viel zu langsam voran. Und wozu brauchen wir eine "Strombörse"?

Deshalb besteht noch erheblicher Klärungsbedarf, bei dem es auch um knallharte wirtschaftliche Interessen geht. Seit den "Konjunkturzyklen" von Schumpeter wissen wir, dass die Durchsetzung einer neuen "Basistechnologie" vor allem eine breit angelegte gesellschaftliche Infrastruktur braucht. Das gilt auch für die Erneuerbaren.

Laut einer neuen Studie ist das CO2-Budget, das der Welt noch zur Verfügung steht, wesentlich kleiner als bisher angenommen. Wenn die Staaten nicht handeln, könnte es schon 2029 aufgebraucht sein. Was bringen die immer neuen Berechnungen, wie viel CO2-Emissionen wir uns überhaupt noch leisten können, wenn die Industrieländer ihre Klimapolitik nicht grundlegend ändern?

In der Zwischenzeit sind es nicht nur die Industrieländer, sondern auch die großen Schwellenländer, die zu "Allesfressern" werden.

Natürlich ist China im Bereich der Mobilität besser, weil das Land die fossile Phase überspringt und gleich in die E-Mobilität geht. Aber das sagt noch nichts über den dortigen Strom- und Wärmebereich aus, auch nicht über den Umfang der Umweltbelastungen und schon gar nichts über den Material- und Ressourcenverbrauch.

Richtig ist, dass beim Klimaschutz schon viel zu viel Zeit verloren wurde, vor allem in den Industrieländern, den bisherigen Hauptverursachern. Die warnenden Berichte sind berechtigt, allerdings stelle ich mir immer wieder die Frage, warum sie als neueste Erkenntnis dargestellt werden.

Wir wissen das doch schon seit vielen Jahren. Hierin sehe ich eine Ursache für das Versagen. Wir durchdringen die Erkenntnisse nicht in der notwendigen Form.

Wir wissen seit den Berechnungen des US-amerikanischen Forschungsrates aus dem Jahr 1979 – erstellt im Zusammenhang mit dem Bericht "Global 2000" –, dass eine CO2-Konzentration in der Atmosphäre von 420 ppm zu einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad Celsius führen wird. Die Messungen am Mauna Loa auf Hawaii kommen heute bereits auf 419 ppm. Das Versagen ist leider schon da.

Auch die aktuell 22 Kriege in der Welt fördern nicht die Bereitschaft, sich global zu verständigen. Im Gegenteil: Wir erleben einen neuen Weltordnungskrieg. Es besteht die Gefahr, dass die erbitterten Verteilungskämpfe als Folge der Erderwärmung auch zu neuen Kriegen führen werden.

Der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln nimmt weiter zu, solange wir nicht begreifen, dass ohne eine radikale Änderung in den Wirtschafts- und Lebensweisen sowie in der internationalen Kooperation nichts verhindert wird. Die Kipppunkte rücken schnell näher.

Vor allem in der Industrie lassen sich die CO2-Emissionen nicht ganz auf null bringen. Zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels brauchen wir sogenannte "negative Emissionen". In Deutschland forschen jetzt mehr als 30 Einrichtungen über drei Jahre vor allem an landbasierter CO2-Entnahme aus der Luft. Solche Maßnahmen dürfen aber die nötige drastische CO2-Einsparung nicht untergraben, warnt Julia Pongratz, die Koordinatorin des Programms. Wie sehen Sie solche Forschungen?

Wir kennen diese Debatte seit Längerem: Die Technik soll uns vor dem retten, was die Technik vor allem durch ihren massenhaften Einsatz – was in der industriellen Massenproduktion ja auch das Ziel ist – angerichtet hat, natürlich nicht im Sinne von Umbau und Vermeidung, sondern als Zeitgewinn.

Ich erinnere mich gut an die Debatte um Paul Crutzen, der angesichts des Versagens in der Klimapolitik ein "Spritzen" der Atmosphäre zur CO2-Bindung als mögliches letztes Mittel sah.

Tatsächlich liegt darin bereits ein Offenbarungseid sowohl von Politik als auch von Wissenschaft, ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden zu sein.

Das war auch die ernüchternde Erkenntnis von Crutzen. Die "negativen Emissionen" sind ein Eingeständnis, dass Wissenschaft und Politik zu schwach waren, das Notwendige durchzusetzen. Das wird auch an den jährlichen Weltklimagipfeln deutlich, deren Beratungen sich schon lange vom Schutz der Erdatmosphäre zur Anpassung an die Erderwärmung verschoben haben.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Welche Antwort kann man darauf in der Zeit voller dramatischer Überraschungen noch geben, in der in der Ukraine der russische Angriffskrieg zu einem Krieg bis zur Erschöpfung zu werden droht, in der es in Israel einen grauenhaften Terrorangriff gab und in der Folge eine ganze Region in Brand geraten kann, in der wir unfähig geworden sind, kritische Debatten zu führen und unterschiedliche Meinungen scheinbar nicht aushalten können, in der FDP-Chef Lindner die Rückkehr zur Kohle vorschlägt, in der Verteidigungsminister Pistorius davon spricht, dass unser Land "kriegstüchtig" werden muss.

Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren wir in einem so gefährlichen, aber auch entleerten Jahrzehnt und müssen alles tun, dass es nicht ähnlich dramatisch endet.

Aber unsere Zeit scheint im Gestern gefangen zu sein, obwohl ein mutiger Schritt in die soziale und ökologische Gestaltung der Zukunft überfällig ist.

Fragen: Jörg Staude

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