Windräder können auch mal havarieren, hier 2016 bei Landstuhl. (Bild: Azador/​Wikimedia Commons)

Härte im Nehmen ist Patrick Graichen nicht abzusprechen. Nach den Regeln der deutschen Medienwelt ist der Rücktritt des Wirtschafts-Staatssekretärs – oder sein Rauswurf – eigentlich nur noch eine Frage der Zeit.

Ende letzter Woche holte ein bekanntes Magazin das ultimative Argument heraus. Danach schadet Habecks Festhalten an Graichen inzwischen dem Minister selbst und seinem wichtigsten Projekt: der Energiewende. Wolle Habeck also die Energiewende retten, müsse er sich von seinem Staatssekretär trennen.

Dem anhaltenden Druck will Habeck aber bisher nicht nachgeben. Nach dem zweiten Solargipfel im Ministerium verteidigte er seinen Staatssekretär am Freitag zum wiederholten Mal.

In der Terminvorschau des Wirtschaftsministeriums ist ein öffentlicher Auftritt Graichens für Donnerstag beim Zentralverbandstag von Haus & Grund angekündigt. Graichen will auf einem Podium zur Frage mitdiskutieren: Macht Klimaschutz das Wohnen unbezahlbar?

Mehr Normalität im Amt geht nicht.

Habecks Story-Maschine stockt

Tags zuvor, am Mittwochmittag, wird zumindest Habeck bei einer am Dienstag beschlossenen gemeinsamen Sitzung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie sowie des Wirtschaftsausschusses im Bundestag auftauchen (müssen), um sich zur Berichterstattung über Personalpolitik und Stellenbesetzung in seinem Haus zu äußern.

Bei dieser Gelegenheit will die Opposition ihre Hände am grünen Filz reiben. Sicher werden gut informierte Kreise brühwarm berichten, was hinter verschlossenen Türen so passierte.

 

Die Affäre liefert viel Anschauungsmaterial über das Verhältnis von Spitzenpolitik und meinungsbildenden Medien. Kein Jahr ist es her, da lobte das Magazin, das Habeck jetzt unter Entlassungsdruck setzt, ihn als großen Kommunikator.

Habeck kommuniziere besser als die anderen Politiker, lautete das Loblied. Dieser Mann trage einen neuen Ton in die Politik, frisch, offen, ehrlich. Damit sei er populär geworden, liege vorn in den Rankings der Beliebtheit und so weiter.

Habeck galt lange als ein Meister darin, Medien eingängige Bilder und einprägsame Wendungen zu liefern – eine gute Story, wie alle sie lieben, die ihren Leser:innen einfache good news servieren wollen.

Der erste Windgipfel war ein Desaster

Das Problem ist nur: Die Story-Maschine ist seit einiger Zeit ins Stocken geraten. So trat Ende März, nach dem ersten Windgipfel, ein fahriger Habeck vor die Kameras. Bei den Erneuerbaren seien die "großen Brocken" schon aus dem Weg geräumt, sagte er. Und bei der Windkraft an Land lägen nur noch "kleinere Feldsteine" im Weg.

In Wahrheit war der Windgipfel, wie später zu hören war, ein ziemliches Desaster. Aufgrund interner Ampel-Differenzen soll am Morgen des Gipfeltages der groß angekündigte Entwurf der Windkraft-an-Land-Strategie gar nicht vorgelegen haben.

So wusste der Gipfel gar nicht so genau, worüber er überhaupt diskutieren sollte. Und der einzige "Feldstein", der seitdem wirklich beiseite geräumt wurde, ist der Plan der Deutschen Bahn, bei Projektierern von Wind- und Solarparks per Umsatzbeteiligung hunderttausende Euro zu kassieren, wenn sie Stromtrassen unter Bahnlinien legen wollen.

So ruhen jetzt alle Hoffnungen, die "Feldsteine" wegzuräumen, auf dem zweiten Windgipfel. Der ist für den 23. Mai terminiert, wie das Ministerium gegenüber Klimareporter° bestätigte. Da soll auch die Wind-an-Land-Strategie endgültig fertiggestellt sein.

Klar ist aber schon jetzt, dass die nötigen Gesetzesänderungen, um die Windkraftstrategie dann umzusetzen, kaum noch vor der Sommerpause durch den Bundestag zu bringen sind.

Beim jüngsten Solargipfel sorgte der "Kommunikator" Habeck selbst dafür, dass die, diesmal recht stimmige, Erfolgsstory vom Solarboom niemand wahrnahm. Denn just am selben Tag zauberte sein Haus ohne Not ein Konzept für einen subventionierten Industriestrompreis aus der Tasche.

In der Energiewende passt vieles nicht mehr zusammen

Viel Substanz hat das Papier nicht. Aus der SPD-Bundestagsfraktion war zuvor die Forderung gekommen, den Strompreis für die Industrie auf fünf Cent pro Kilowattstunde zu begrenzen. Niedersachsen verlangte eine Obergrenze von sieben Cent – das Ministerium nahm mit sechs Cent einfach den Mittelwert.

Bei Habecks Energiewende passen viele Storys nicht mehr zusammen, auch inhaltlich nicht. So will der Wirtschaftsminister demnächst eine Kraftwerksstrategie vorlegen, auch schon seit Monaten angekündigt.

Wie viele Kraftwerke welcher Größe und Art wirklich gebraucht werden, hängt aber wesentlich vom künftigen Marktdesign des Stromsystems ab.

Das wird eigentlich auf der Plattform "Klimaneutrales Stromsystem" beredet – mit "Akteuren aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft", wie das Ministerium dort stolz verkündet. Ergebnisse sollen zum Jahresende vorliegen.

Allerdings scheint das Wirtschaftsministerium bezüglich der Gefahr vorzubauen, die "Akteure" könnten nicht das wollen, was in der Behörde für richtig erachtet wird.

Teilnehmer an kürzlichen Arbeitsgruppen-Sitzungen beklagen, wie es heißt, alles sei schon "vorgeprägt", Fragen würden ziemlich schnell abmoderiert und statt einer offenen Debatte herrsche eine "Klassenzimmeratmosphäre".

Die Kritik aus der Wissenschaft ist teilweise verstummt

Mit offener Kritik am Wirtschaftsministerium halten sich viele Energiewende-Befürworter allerdings noch zurück. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die grausliche Alternative Politiker wie Jens Spahn sind, der energiepolitische Sprecher der Unionsfraktion. Wer eine Wortmeldung von Spahn zum Thema Energie gehört hat, kann sich auch nur wünschen, dass dieser nicht einmal Pförtner im Wirtschaftsministerium wird.

Wer über Jahre mit der Wissenschaftlergemeinde zu tun hat, die sich für die klimaneutrale Zukunft einsetzt, dem fällt aber schon länger auf, dass wichtige Stimmen fehlen.

Zuallererst ist die Denkfabrik Agora Energiewende zu nennen. Die ist nach dem Wechsel ihres einstigen Chefs Patrick Graichen ins Ministerium nur noch ein Schatten ihrer selbst, ähnlich wie die Stiftung Klimaneutralität. Bei beiden geht es nicht mehr um die Weiterentwicklung der Energiewende, sondern nur noch um eine – mehr oder weniger wohlwollende – Begleitung der Regierungspolitik.

 

Auch das Öko-Institut, einst maßgebliche öffentliche Stimme, ist in kritischer Rolle kaum mehr wahrzunehmen. Der Rückzugsprozess begann allerdings schon vor der Regierungszeit der Ampel. Bereits 2019 wurde eine Reihe großer Regierungsaufträge an das Öko-Institut vergeben, zeigt die jetzt vom Wirtschaftsministerium veröffentlichte Zusammenstellung der Aufträge und Zuwendungen.

Auch die Deutsche Energieagentur (Dena) wird durch den Fall Graichen in ihrem Ruf beschädigt. Im September letzten Jahres hatte der jetzige Dena-Chef Andreas Kuhlmann von sich aus seinen Rückzug für Mitte 2023 angekündigt.

Kuhlmann hat maßgeblich die 2018 vorgelegte Leitstudie "Integrierte Energiewende" verantwortet. Erstmals waren darin mit über 60 Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft Strategien fürs Erreichen der Klimaziele entwickelt worden, entsprechend dem damaligen politischen Konsens für 2050.

Ein politischer Neustart für die Energiewende

In seiner Rückzugserklärung äußerte sich Kuhlmann auch zur künftigen Rolle der Dena. Der nächste konsequente Schritt sei für ihn eine stärkere institutionelle Verankerung der Dena und, damit verbunden, eine stärkere strategische Einbindung in entsprechende Prozesse. Das aber, schreibt Kuhlmann weiter, bedürfe "natürlich der Unterstützung derjenigen, die dafür Verantwortung tragen".

Der letzte Satz liest sich ein halbes Jahr und eine Trauzeugen-Affäre später noch mal ganz anders.

Die Energiewende hin zu einem 100 Prozent erneuerbaren Energiesystem ist die schwierigste und komplexeste Aufgabe, die Deutschland wirtschaftlich je zu lösen hatte. Da ist es schon fatal, wenn ein Ministerium sich offenbar einigelt und Kritik wegmoderiert, wenn, wie Experten sagen, eine verengte Sicht herrscht – ob nun absichtlich oder unabsichtlich.

Ob Graichen seinen Platz räumt oder nicht, ist gar nicht mehr so entscheidend. So oder so braucht die Energiewende einen politischen Neustart. Die bisherige Story scheint auserzählt.

Der Beitrag wurde um 12:45 Uhr und am Folgetag um 5:15 Uhr aktualisiert (Tagesordnungen der Bundestagsausschüsse).

Ergänzung am 18. Mai: Wirtschaftsminister Habeck hat Graichen gestern entlassen.

 

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