Hartmut Graßl. (Foto: Christoph Mischke/​VDW)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.

Klimareporter°: Herr Graßl, keine Woche, nachdem der IPCC mit dem Synthesebericht die Arbeit am sechsten Sachstandsbericht abgeschlossen hat, beschloss die Ampel-Koalition nach tagelangen Beratungen, das Klimaschutzgesetz aufzuweichen und die scharfen Sektorziele aufzuheben. Hat die Regierung den Synthesebericht nicht zur Kenntnis genommen?

Hartmut Graßl: Der Synthesebericht des Weltklimarates IPCC ist in den Berichten der drei Arbeitsgruppen schon seit August 2021 beziehungsweise dem Frühjahr 2022 im Wesentlichen enthalten, jetzt nur zusammenfassend bewertet dargestellt.

Eine für mich zentrale Aussage des sechsten Sachstandsberichts lautet: Die Einhaltung des Paris-Abkommens von 2015 ist nicht mehr nur durch drastische und rasche Emissionsminderungen von Treibhausgasen einzuhalten, sondern nur noch zusätzlich durch Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Denn die für das völkerrechtlich bindende Abkommen notwendige global koordinierte Klimaschutzpolitik hat zu lange weitgehend gefehlt.

Diese CO2-Entnahme aus der Luft ist auch dann noch notwendig, wenn das zentrale Ziel des Paris-Abkommens "Erwärmung wesentlich unter zwei Grad Celsius" angestrebt wird und nicht das stärker fordernde Ziel von maximal 1,5 Grad Erwärmung – jeweils gegenüber der Zeit vor der Industrialisierung. Maßnahmen zur Entnahme des CO2 sind laut Bericht: Aufforstung, Wiederherstellung naturnaher Ökosysteme wie entwässerter Moore, Lagerung von CO2 in tieferen Schichten der Erdkruste.

Die Aufhebung der Sektorziele bei Erhalt des Gesamtziels durch die jetzige Regierung ist zunächst kein Beinbruch, wird aber als solcher von der Mehrheit der Bevölkerung so empfunden. Sie war zur Verbesserung des Klimas in der Regierungskoalition wahrscheinlich notwendig.

Bei der Verpressung von CO2 unter dem Meeresboden gibt es durchaus Risiken. Diese seien aber kontrollierbar, sagen Experten. Auch Deutschland müsse CO2 unter dem Meer speichern, um seine Klimaziele einzuhalten, fordert die "Deutsche Allianz Meeresforschung". Haben wir inzwischen so viel CO2 ausgestoßen, dass wir um die Speicherung nicht mehr herumkommen?

Neue Techniken – hier die gewollte CO2-Speicherung in der Erdkruste – führen fast immer zu heftigen Debatten, einerseits mit Überbetonung der Risiken durch tatsächlich oder vermeintlich Betroffene und andererseits mit Verharmlosung der Risiken durch ökonomisch interessierte Kreise. Das gilt auch für die CO2-Speicherung unter dem Meeresboden.

Dazu gibt es nicht nur Abschätzungen mit Rechenmodellen, sondern auch die langjährige Praxis der CO2-Nutzung zur beschleunigten Ölförderung vor allem in den USA sowie Experimente von Forschergruppen in zwei Meeresgebieten, nämlich der Nordsee und der Barentssee.

Diese Untersuchungen internationaler Forschergruppen zu Lecks in von Norwegen jetzt als CO2-Speicher genutzten früheren Erdgas- und Erdöl-Lagern haben gezeigt, dass das hineingepresste CO2 dort bleibt und die Leckrate minimal ist. Weil Norwegen schon seit 1991 CO2-Emissionen bepreist, verursacht das Speichern in bisherigen Erdgas- und Erdöl-Lagerstätten geringere Kosten, als für die CO2-Emissionen zu zahlen.

Der zurzeit bei etwa 60 Euro pro Tonne liegende CO2-Preis soll laut norwegischer Regierung bis 2030 auf etwa 200 Euro steigen. Vor wenigen Tagen hat die Regierung zwei Firmen die Lizenz zur Suche nach weiteren Speicherorten unter der Nordsee erteilt. Eine davon ist die deutsche Firma Wintershall.

Beim Verpressen von CO2 in Schichten, die tiefer als etwa 800 Meter unter dem Meeresboden liegen, ist das Treibhausgas CO2 ein überkritisches Gas, das heißt es existiert bei Temperaturen über 31 Grad und einem Druck über 74 Bar. Dadurch bleibt es dort in den Poren im Gestein "gefangen" wie früher zusammen mit Erdgas und Erdöl. Deshalb ist die beobachtete sehr geringe CO2-Leckrate des verpressten CO2 aus früheren Bohrlöchern sehr plausibel.

Norwegen hat vor wenigen Tagen angekündigt, dass es auch das CO2 aus anderen Ländern speichern könnte. Auch Deutschland könnte versuchen, in seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone im sogenannten Entenschnabel in der Deutschen Bucht CO2 zu speichern.

Da wir als großes Industrieland auch große CO2-Emissionen zum Beispiel aus der Zementindustrie und der Stahlerzeugung haben, die wir kaum in den nächsten Jahrzehnten vermeiden können, sollten die Untersuchungen zur Sicherheit einer solchen Speicherung in der Deutschen Bucht rasch beginnen.

Die Einnahmen aus dem CO2-Preis sollten nicht nur für die Energiewende genutzt werden, sondern auch für den sozialen Ausgleich, so das Resultat eines Kopernikus-Forschungsprojekts. Das ist nicht die erste Mahnung an die Ampel-Regierung, ihr großes klimapolitisches Versprechen zu erfüllen. Könnte die Einführung eines Klimageldes wirklich zu mehr Akzeptanz von Klimaschutz beitragen?

Kleinere Länder wie die Schweiz machen es uns vor, wie dieser soziale Ausgleich funktionieren kann. Dort wird seit 2008 eine CO2-Abgabe erhoben, die bei Verfehlung der nationalen Ziele erhöht wird. Weil das Zwischenziel von 33 Prozent Minderung der fossilen Brennstoffe gegenüber 1990 im Jahr 2020 mit nur 31 Prozent verfehlt wurde, stieg die Abgabe zum Jahr 2022 von 96 Schweizer Franken auf 120 Franken.

Zwei Drittel der Abgabe werden an die Schweizer Bevölkerung und die Wirtschaft zurückverteilt. 2021 erhielt jede in der Schweiz lebende Person 87 Franken. Weil ärmere Menschen kleine Wohnungen haben und keine oder kleine Autos fahren, bekommen sie mehr zurück, und die mit mehreren Autos sowie Villen viel stärker Emittierenden zahlen den Hauptteil der Abgaben.

Die CO2-Abgabe wird in der Schweiz auf fossile Brennstoffe wie Heizöl oder Erdgas erhoben. Sie wird – wie gezeigt – automatisch erhöht, wenn die in der geltenden CO2-Verordnung festgelegten Zwischenziele für die Minderung der CO2-Emissionen aus fossilen Brennstoffen nicht erreicht werden.

Gleichzeitig wird dadurch der Kauf eines Elektroautos oder der Ersatz einer Ölheizung durch eine Wärmepumpe zu einer zusätzlichen Einnahmequelle. Machen wir es den Schweizern nach!

Die Bundesregierung beschloss kürzlich das Aktionsprogramm "Natürlicher Klimaschutz". Funktionierende Ökosysteme können CO2 aus der Luft holen und speichern, sie sorgen für biologische Vielfalt und dienen auch der Vorsorge gegen die Folgen der Klimakrise. Welche Hoffnungen haben Sie in ein solches Programm?

Dieser natürliche Klimaschutz muss lange durchgehalten werden, das heißt er funktioniert nur in Ländern mit einer stabilen Regierung. Wer heute den Beschluss fasst zu einer Wiedervernässung von ehemaligen Feuchtgebieten wie Mooren oder zur Wiederaufforstung, der muss diese Aktivität nicht nur mindestens über Jahrzehnte aufrechterhalten, er muss auch durch systematische Beobachtung der nur langsam erkennbaren Erfolge eventuell nachsteuern können.

Weil es sich dabei um größere Flächen handeln muss, wenn eine wesentliche Wirkung erzielt werden soll, gelingt das nur mit der größten natürlichen Energiequelle, der Sonne. Sie hilft dabei, mehr CO2 aus der Atmosphäre in Biomasse in Wäldern, Flussauen und Mooren umzuwandeln, den Humusgehalt der landwirtschaftlich genutzten Böden zu erhöhen und Kohlenstoff in langlebigen Produkten wie Holzhäusern und Möbeln zu speichern.

Fast alle genannten Maßnahmen helfen mit, den bisher ungebremsten Verlust an biologischer Vielfalt zu mindern und die Vielfalt regional sogar zu erhöhen. Anders als bei dem extremen Energieaufwand, der für den Ersatz fossiler Treibstoffe durch sogenannte E‑Fuels notwendig wäre, brauchen solche natürlichen Klimaschutzmaßnahmen außer der kostenlosen Sonnenstrahlung keine zusätzliche Energie.

Für unser Land mit wenig naturnahen Wäldern, überwiegend entwässerten Mooren und meist intensiv genutzten Ackerböden mit vermindertem Kohlenstoffgehalt ist das Aktionsprogramm eine sehr wichtige Klimaschutzmaßnahme, deren langfristige Bedeutung jedoch leider von den meisten Medien nicht als solche vermittelt worden ist.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Kommende Woche, am 15. April 2023, endet der sogenannte Streckbetrieb der letzten drei noch Strom produzierenden Kernkraftwerke in Deutschland. Sie lieferten in dieser Woche etwa ein Drittel weniger als die volle Leistung, das waren etwa vier Prozent des Strombedarfs.

Deshalb hätte ich mir gut vorstellen können, dass es trotz des Machtwortes des Kanzlers noch in dieser Woche eine orchestrierte politische Aktion der Kernenergiebefürworter zum Herausstellen der "Dummheit" des deutschen Ausstiegs aus der Kernenergienutzung gibt.

Ich hörte nichts, fand nur eine Kolumne im Spiegel von einem sich selbst als rechts bezeichnenden Journalisten. Deutschland wird also zu meiner Überraschung ohne heftige politische Debatte aus der Kernenergie aussteigen.

Fragen: Jörg Staude

Anzeige