Klimareporter°: Herr Wunderling, die Forschung hat eine ganze Reihe Kippelemente des Weltklimas identifiziert, deren Auslösen an bestimmte Temperaturschwellen gebunden ist – von den Korallenriffs über den Amazonas-Regenwald bis zum Golfstrom. Die Erderwärmung hat nun erstmals für einen Zwölf-Monats-Zeitraum 1,5 Grad überschritten. Erhöht das die Gefahr?

Nico Wunderling: Höhere globale Temperaturen bringen Kippelemente in Gefahr, möglicherweise unumkehrbar zu kippen. Das heißt also, dass das langfristige Überschreiten von 1,5 Grad einen großen Unterschied macht und das Kipprisiko erhöht. Insbesondere weil wir uns nicht nur kurzfristig in den letzten zwölf Monaten, sondern auch langfristig auf einem Pfad befinden, der zu Temperaturerhöhungen jenseits der 1,5 und ohne Gegensteuern auch jenseits der zwei Grad führt.

Gibt es Kippelemente, deren Auslösen schon jetzt nicht mehr verhindert werden kann?

Der unlängst veröffentlichte "Global Tipping Points Report" der Universität Exeter in Großbritannien nennt fünf Kippelemente, deren Kipppunkt bald erreicht werden könnte. Das sind die großen Eisschilde auf Grönland und der Westantarktis, Teile des Permafrostbodens, der subpolare Wirbel als Teil atlantischer Ozeanzirkulationen und die tropischen Korallenriffe.

Speziell die tropischen Korallenriffe sind in Gefahr, bereits bei einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad zu 70 bis 90 Prozent zu verschwinden. Bei zwei Grad wären 90 bis 99 Prozent betroffen. Gerade letzte Woche hat die US-Wetterbehörde NOAA drei neue Alarmstufen für Hitzestress bei Korallen eingeführt.

Wenn die globale Erwärmung möglichst schnell gestoppt und möglichst auf unter 1,5 Grad zurückgefahren wird, kann ein Kippen vieler Elemente noch verhindert werden. Bei den Korallenriffen kommt es aber bereits jetzt zu schwerwiegenden Korallenbleichen.

Wie dramatisch wären solche Veränderungen? Nicht alle Kippelement kippen schnell. Das komplette Abschmelzen der Eisschilde zum Beispiel würde Jahrhunderte dauern …

Bild: Willem Huiskamp

Nico Wunderling

ist Physiker und arbeitet am Potsdam-Institut für Klima­folgen­forschung (PIK) sowie am Stockholm Resilience Centre. Er forscht zur Dynamik von Kipp­elementen im Klima­system und zu deren Aus­wirkungen auf die Gesellschaft und umgekehrt.

Das Abschmelzen der großen Eisschilde würde in der Tat Jahrhunderte oder sogar länger dauern. Trotzdem kann unser Handeln heute und das der nächsten Generationen entscheidend dafür sein, dass ein Kipppunkt möglicherweise dauerhaft überschritten wird und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann – besonders dann, wenn der Kipppunkt zu lange oder zu weit überschritten wird. Auf lange Sicht wären dann bis zu zehn Meter Meeresspiegelanstieg zu erwarten.

Auch das jetzt heftig diskutierte mögliche Kippen der Atlantikzirkulation hätte drastische Folgen. Es würde zu deutlich geringeren Temperaturen vor allem in Europa führen, da sich der Warmwassertransport aus äquatorialen Regionen nach Norden abschwächt. In Skandinavien und Island könnten die Temperaturen im Jahresmittel durchaus um fünf Grad oder noch mehr sinken. Die Frage nach der Lage des Kipppunktes ist aber Gegenstand weiterer Forschung und kann mit derzeitigen Studien nicht endgültig beantwortet werden.

Einige Fachleute sagen, das Ziel in der Klimapolitik, unter 1,5 Grad zu bleiben, ist angesichts global weiter steigender Emissionen unrealistisch. Man sollte zwei Grad anpeilen. Einverstanden?

Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Das Ziel muss es weiterhin sein, die 1,5‑Grad-Marke zu halten, auch wenn sich ein zeitweises Überschreiten nicht verhindern lässt.

Die 1,5 Grad sind gegenüber zwei Grad oder noch mehr deutlich zu bevorzugen, damit Kippelemente nicht ausgelöst werden, aber auch wegen der Gefahr eines vermehrten Auftretens anderer Extremereignisse wie Dürren, Hitzewellen oder Überflutungen.

Halten Sie es für machbar, nach dem Überschreiten der 1,5 Grad die Temperatur wieder abzusenken? Und würde das Kippelemente stabilisieren können?

Eine Stabilisierung der Kippelemente ist durchaus möglich, hängt aber davon ab, wie schnell ein Überschreiten der 1,5-Grad-Marke wieder rückgängig gemacht werden kann. Die Zeit, die für eine solche Absenkung zur Verfügung steht, ist je nach Kippelement unterschiedlich. Daher ist eine Begrenzung auf unter 1,5 Grad zum Ende dieses Jahrhunderts sehr wichtig, zusammen mit dem Ziel, die Dauer einer Überschreitung möglichst kurz zu halten.

In der Exeter-Studie zu den Kippelementen werden auch positive Kippelemente benannt, nämlich solche im sozialen Bereich, die die Klima- und Energiewende schnell voranbringen könnten. Macht Ihnen das Hoffnung?

In der Tat, positive Kipppunkte machen Hoffnung – nämlich, dass gesellschaftliche Veränderungen ausgelöst werden können, die sich im Vergleich zu den langsameren Klimakippelementen sehr schnell realisieren lassen.

Und wie wahrscheinlich ist es, dass die positiven Kippelemente schnell genug ausgelöst werden?

Ein Beispiel ist die Umstellung von fossil angetriebenen Fahrzeugen auf elektrisch angetriebene, diese hat inzwischen Fahrt aufgenommen. Ein anderes ist der Ausbau der Solarenergie.

So etwas macht Hoffnung, dass es auch in anderen Bereichen schnell gehen könnte, ebenso sonstige nachhaltige Entwicklungen in der Gesellschaft. Die Anstrengungen müssen aber global noch deutlich verstärkt werden, um das im Pariser Klimaabkommen gesteckte Ziel einer Begrenzung auf 1,5 Grad zu erreichen.