Alle Jahre wieder findet sich die Weltgemeinschaft auf dem Klimagipfel ein. Und alle Jahre wieder fragt man sich angesichts der anfänglichen Querelen – etwa ob der fossile Ausstieg wirklich auf die Tagesordnung muss –, welche Rolle wissenschaftliche Erkenntnisse bei diesem Gipfel spielen.
Während jedes Jahr eine Flut an neuen Studien die Faktenlage verändert, überdauern in den Eröffnungsstatements der Träger:innen höchster politischer Ämter die immer gleichen Floskeln den Druck der Zeit.
UN-Chef António Guterres: "Der Countdown für die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs läuft ab."
Der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez: "Es geht nicht darum, auf Wachstum zu verzichten, sondern verantwortungsvoller zu wachsen."
Brasiliens Vizepräsident Geraldo Alckmin: "Wenn wir jetzt nicht handeln, wird uns das später teuer zu stehen kommen."
Emmerson Mnangagwa, Präsident von Simbabwe: "Die Wissenschaft warnt vor der Notwendigkeit, die Treibhausgasemissionen drastisch zu reduzieren."
Stammen diese Zitate vom jetzigen Gipfel in Baku, vom letztjährigen in Dubai oder von dem vor zehn Jahren? Wer kann das schon sagen. Sinngemäß sind alle drei Antworten richtig.
In einer mager besuchten Pressekonferenz finden die neuesten klimapolitischen Erkenntnisse am Ende doch noch einen kleinen Platz auf dem Bakuer Klimagipfel. Im Konferenzraum "Side-Event 6" stellt der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Johan Rockström, die achte Auflage des Berichts "Ten New Insights in Climate Science" vor.
Die zehn wichtigsten neuen Erkenntnisse der Klimaforschung
1. Methan-Emissionen steigen rasant an
Seit 2006 steigen die Emissionen des Klimagases Methan massiv an – überwiegend durch menschliche Aktivitäten, vor allem fossile Förderung, Abfallsektor und Landwirtschaft. Es gibt genug Informationen über die Quellen, aber die politischen Maßnahmen zum Gegensteuern fehlen. Zudem werden durch den Klimawandel auch natürliche CO2-Quellen getriggert – tauender Permafrostboden zum Beispiel –, was die Senkung menschengemachter Methan-Emissionen umso dringlicher macht.
2. Abnehmende Luftverschmutzung hat komplexe Auswirkungen aufs Klima
Bessere Luftqualität wirkt positiv auf die Gesundheit, leistet aber auch der Klimaerwärmung Vorschub, denn die Aerosole haben unterm Strich eine kühlende Wirkung. Regionale Auswirkungen der komplexen Aerosol-Klima-Wechselwirkungen müssen in Klimaschutz- und ‑anpassungsstrategien bedacht werden.
3. Zunehmende Hitze macht immer mehr Teile der Welt unbewohnbar
Immer häufigere und stärkere Hitzeperioden und damit korrespondierende Luftfeuchtigkeit – besonders in Nordindien und in der afrikanischen Sahelzone – machen schon heute den Lebensraum von 600 Millionen Menschen zunehmend unbewohnbar. Noch viele weitere Menschen werden davon in Zukunft betroffen sein. Entsprechende Maßnahmen – Frühwarnsysteme, Anpassungen – müssen schleunigst umgesetzt werden.
4. Klimaextreme gefährden menschliche Reproduktion
Der Klimawandel erhöht das Risiko für Schwangere, Ungeborene und Säuglinge. Die klimatischen Veränderungen und Extreme drohen Jahrzehnte der Gesundheitsfortschritte in dem Bereich zunichtezumachen.
5. Sorgen über El Niño und den Golfstrom
Die beispiellose Erwärmung der Weltmeere macht extremere El-Niño-Ereignisse und eine Instabilität der Atlantischen Umwälzzirkulation – deren Teil der Golfstrom ist – wahrscheinlicher. Rockström: "Wir können einen Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzzirkulation in diesem Jahrhundert nicht mehr ausschließen." Dadurch würde der Amazonas-Regenwald voraussichtlich kollabieren und beträchtliche Teile der Nordhalbkugel der Erde würden unbewohnbar werden.
6. Ökologische und kulturelle Vielfalt stärkt den Amazonas-Regenwald
Entwaldung und Erderwärmung führen den Amazonas-Regenwald immer näher an seinen Kipppunkt. Die ökologische Vielfalt des Waldes sowie die kulturelle Vielfalt der indigenen Gemeinschaften können durch lokale und regionale Anstrengungen erhalten werden. Das reicht aber nicht aus – nur zusammen mit deutlicher Emissionsminderung lässt sich der Regenwald noch retten.
7. Kritische Infrastruktur gerät immer mehr unter Druck
Die Resilienz von Systemen der Strom-, Nahrungs- und Wasserversorgung, Telekommunikation und weiterer Infrastrukturen wird von Extremwetterereignissen auf die Probe gestellt. Es besteht die Gefahr kaskadischer Zusammenbrüche dieser zusammenhängenden Netzwerke.
8. Klimaresiliente Stadtentwicklung hat viele Synergien
Ein integrierter sozialer, ökologischer und technologischer Ansatz in der Stadtplanung kann Städte widerstandsfähiger im Klimawandel und gleichzeitig sozial gerechter und lebenswerter machen. Mehr Grün in der Stadt erhöht beispielsweise nicht nur die Lebensqualität, sondern schützt auch vor Überhitzung und Starkniederschlägen. Das habe etwa das spanische Valencia wesentlich widerstandsfähiger gegen die vergangenen Unwetter gemacht, merkt Rockström an.
9. Die Wertschöpfungsketten von Energiewende-Mineralien brauchen Regulierung
Der steigende Bedarf an Metallen wie Kobalt, Kupfer und Lithium in der Energiewende birgt beträchtliche soziale, ökologische und ökonomische Gefahren, besonders für die Länder des globalen Südens. Durch kluge Regulierung müssen die Vorteile für den globalen Süden möglichst groß und die Nachteile möglichst gering gehalten werden.
10. Der Erfolg von Klimapolitik hängt von ihrer gerechten Ausgestaltung ab
Die Bedenken der Bevölkerung zu ignorieren, untergräbt die Wirksamkeit von Klimapolitik und heizt Gegenbewegungen an. Eine transparente Kommunikation und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft bei politischen Entscheidungen stärken den gesellschaftlichen Rückhalt.
Ohne Gerechtigkeit und Teilhabe keine wirksame Klimapolitik
PIK-Direktor Rockström resümiert: "Eine der Kernaussagen des Berichts ist, dass der Planet seine Gesundheit einbüßt. Der Planet verliert seine Fähigkeit mit den Folgen des menschlichen Handelns umzugehen."
Damit bezieht sich der Resilienzforscher auf die natürlichen Rückkopplungseffekte des Erdsystems. Diese können die Klimakrise weiter verstärken. So bewirkt etwa das Abschmelzen der Eismassen, dass helle Oberflächen auf der Erde abnehmen, wodurch ein geringerer Anteil der einfallenden Sonnenstrahlung reflektiert wird, was wiederum die Erwärmung vorantreibt.
Oder: Die unter der Hitze und anderen Auswirkungen des Klimawandels leidenden Wälder nehmen weniger CO2 auf und verwandeln sich im Extremfall sogar in eine CO2-Quelle. Auch das beschleunigt die Klimakrise. All diese Prozesse gefährden die Stabilität des Systems Erde.
Über 80 internationale Expert:innen aus Sozial- und Naturwissenschaften waren an der Erarbeitung des Berichts beteiligt. Wie wichtig ein interdisziplinärer Ansatz sei, um der Komplexität der Klimakrise gerecht zu werden, betonen mehrere Wissenschaftler:innen, die die Erkenntnisse nach Rockströms Schnelldurchlauf diskutieren.
Besonders um Erkenntnis zehn dreht sich das Gespräch. Auch Rockström hebt hervor, dass der Wahlsieg von Donald Trump in den USA, aber auch das Polit-Debakel in Deutschland darin begründet liegen, dass Gerechtigkeit und Teilhabe in der Politik vernachlässigt werden.
Gebraucht würden überzeugende Narrative, wie ein gutes Leben in einer klimagerechten Welt aussehen kann, sagt die norwegische Pädagogin Mari Sundli Tveit auf der Veranstaltung in Baku. "Wir können so viel wissen, wie wir wollen. Wir müssen daraus etwas machen, mit dem Politiker gewählt und wiedergewählt werden können. Sonst wird das, was in den USA passiert ist, immer und immer wieder passieren."