Die verschiedenen Subsysteme des Erdsystems stehen miteinander in Verbindung, sodass der Zusammenbruch eines Strömungssystems Auswirkungen auf der ganzen Welt hat. (Bild: Stefan Rahmstorf/​PIK)

Seit Jahren warnen Wissenschaftler:innen vor einem möglichen Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzzirkulation – einem Strömungssystem, zu dem auch der Golfstrom gehört. Eine neue Studie bringt nun besorgniserregende Erkenntnisse.

Forscher:innen der Universität Utrecht haben mithilfe eines der modernsten Klimamodelle einen Kipppunkt im Strömungssystem nachgewiesen.

Die Ergebnisse lieferten eine klare Antwort auf die seit Langem in der Forschungsgemeinschaft diskutierte Frage, ob es einen Kipppunkt der Zirkulation gebe, liefern, schreiben die Autor:innen. "Ja, in diesen Modellen kam es zu einem Kipppunkt."

Die Forschungsgruppe um den Klimawissenschaftler René van Westen nennt ihre Ergebnisse "eine schlechte Nachricht für das Klimasystem und die Menschheit".

Es war bisher wissenschaftlich umstritten, ob der Kipppunkt nur eine theoretische Möglichkeit ist und möglicherweise in komplexeren und realistischeren Modellen, die die verschiedenen Rückkopplungseffekte des Klimasystems berücksichtigen, nicht auftritt. Doch genau diese Hoffnung hat die vor wenigen Tagen im Journal Science Advances erschienene Studie zunichtegemacht.

In einer Simulation wurde der Zufluss von Süßwasser in den Atlantik stetig erhöht. Über viele Jahre schwächte sich dadurch die Zirkulation ab, bis ab einem bestimmten Punkt das Strömungssystem in nur einem Jahrhundert zusammenbrach.

Empirische Untersuchungen belegen, dass sich die Umwälzzirkulation seit 1950 um 15 Prozent verlangsamt hat. Sie befindet sich gegenwärtig in dem schwächsten Zustand seit mindestens einem Jahrtausend.

Wie weit ist der Kipppunkt entfernt?

Die Atlantische Umwälzzirkulation ist ein kompliziertes Strömungssystem und bewegt Wassermassen über den gesamten Atlantik. Sie transportiert warmes, salziges Wasser aus den Tropen Richtung Norden.

Die Wassermassen kühlen sich auf dem Weg zum Polarkreis ab und es bildet sich Meereis. Dabei erhöht sich der Salzgehalt im Meerwasser, die Dichte des Wassers nimmt zu und es sinkt zwischen Grönland und Nordeuropa in die Tiefe. Dort fließt es wieder zurück nach Süden.

Durch den Klimawandel wird diese Umwälzbewegung abgeschwächt. Niederschläge nehmen zu und der Grönlandeisschild schmilzt, beides erhöht den Süßwassereintrag in den Atlantik. Mit dem sinkenden Salzgehalt des Meerwassers nimmt auch seine Dichte ab, wodurch das Absinken der Wassermassen gehemmt wird.

Die Autor:innen fanden außerdem ein Frühwarnsignal für den Kipppunkt – die Veränderung des Salzgehalts im Südatlantik. Daraus lassen sich besonders genaue Rückschlüsse auf die Stabilität des Systems ziehen, wie die Simulationen zeigten.

Klimaexperte Stefan Rahmstorf, der selbst viel zur Atlantischen Umwälzzirkulation geforscht hat, versteht die Studie als einen "bedeutenden Fortschritt" für die Erforschung der Stabilität des Strömungssystems.

"Sie bestätigt anhand von Beobachtungsdaten, dass sich der Atlantik 'auf Kippkurs' befindet, also auf den Kipppunkt zusteuert, so Rahmstorf. "Die Milliarden-Dollar-Frage lautet: Wie weit ist dieser Kipppunkt noch entfernt?"

Diese Frage können auch van Westen und sein Team nicht beantworten. In einem Beitrag auf der gemeinnützigen Medienplattform The Conversation schreiben van West und zwei seiner Kolleg:innen, dass empirische Daten nicht weit genug in die Vergangenheit reichen, um darauf eine Antwort zu finden.

Wenn das Frühwarnsignal allerdings einen bestimmten Schwellenwert überschreitet, sei es wahrscheinlich, dass der Kipppunkt in zehn bis 40 Jahren erreicht wird, so die Forscher:innen.

Arktisches Meereis bis zum Ärmelkanal

Was würde das bedeuten? Auch damit hat sich das Team beschäftigt.

In Nordamerika und besonders in Europa würde der Zusammenbruch der Strömung einen enormen Temperatursturz auslösen. Einige Gebiete in Nordeuropa würden sich mit einer Rate von drei Grad pro Dekade abkühlen. Zum Vergleich: Aktuell führt der Klimawandel zu einer Erwärmung von 0,2 Grad in zehn Jahren.

Damit würden gegenwärtige Anpassungsmaßnahmen, wie die Ansiedlung von hitzeresistenten Baumarten in den europäischen Wäldern, in die völlig falsche Richtung gehen. "Es gibt keine realistischen Anpassungsmaßnahmen, die mit den schnellen Temperaturänderungen bei einem Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzzirkulation umgehen können", heißt es in der Studie.

Die Folgen des Zusammenbruchs fallen stärker aus als in früheren Studien, in denen Rückkopplungseffekte zwischen dem Klima und der Ausbreitung des Meereises häufig ignoriert wurden. Die Modellergebnisse der neuen Studie zeigen, dass sich bei Überschreitung des Kipppunktes die arktische Meereisdecke bis zum 50. nördlichen Breitengrad ausdehnen würde. Dieser Breitengrad geht in Europa durch den Ärmelkanal.

Weltweit wäre der Zusammenbruch des Strömungssystems zu spüren. Auf der südlichen Halbkugel würde sich laut der Studie die Erwärmung verstärken. Natürlich blieben auch Windsysteme und damit Niederschlagsmuster nicht unbeeinflusst.

Im Amazonasgebiet könnten sich Trocken- und Regenzeiten umkehren und das dortige Regenwald-Ökosystem selbst zum Kippen bringen.

Gefahr einer Kipppunkt-Kaskade

Kippelemente sind Bestandteile des Erdsystems, die eine herausragende Bedeutung für die Stabilität der Erde haben. Dazu zählen neben der Atlantischen Umwälzzirkulation und dem Amazonas-Regenwald auch die Permafrostböden in der Tundra und einige weitere.

Sie alle haben gemeinsam, dass sie sich durch vergleichsweise geringe äußere Einflüsse ab einem Schwellenwert – dem Kipppunkt – abrupt und in menschlichen Zeitskalen unumkehrbar verändern.

Prognosen über diese komplexen Systeme oder gar die genaue Bestimmung von Kipppunkten ist schwierig, weshalb nach wie vor viele Unsicherheiten in diesem Forschungsfeld herrschen. So befürchten einige Wissenschaftler:innen, dass das Kippen eines dieser Systeme kaskadisch zum Kippen weiterer Elemente führen könnte.

 

Obwohl klar ist, dass die Überschreitung eines Kipppunkts weitreichende Folgen hätte, sind solche Kaskadeneffekte noch höchst umstritten.

Diese Unsicherheit, betonte Rahmstorf in Bezug auf die Atlantische Umwälzzirkulation, sei kein Grund zur Entwarnung: "Es geht nicht darum, sicher zu sein, dass es passieren wird. Wir müssen es mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent ausschließen. Sobald wir ein eindeutiges Warnsignal haben, wird es angesichts der Trägheit des Systems zu spät sein, etwas dagegen zu unternehmen."