Michael Müller
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Im Klimawahlcheck von Klima-Allianz, German Zero und Naturschutzbund schneiden Grüne und Linke gut ab, Union und FDP viel schlechter, die SPD landet fast in allen Punkten im Mittelfeld. Herr Müller, ist Ihrer Partei der Klimaschutz nicht so wichtig?

Michael Müller: Ich kenne den Klimawahlcheck nicht, halte aber auch nicht viel von derartigen Erhebungen. So funktioniert Politik nicht. Und außerdem ist viel Framing dabei.

Es geht um Konzepte, die nicht nur Einzelpunkte behandeln – so wichtig sie sind –, sondern eine gesellschaftliche Reformpolitik zum Ziel haben.

Was wäre Ihr Vorschlag?

Ich halte die CO2-Bepreisung für einen von mehreren wichtigen Punkten, wobei schon viel zu viel Zeit verloren wurde, um die ursprüngliche Idee einer schrittweisen Erhöhung von Ende der 1980er Jahre heute noch sozial verträglich in Politik umzusetzen.

Wir müssen schnell handeln, denn wir haben mindestens 30 Jahre verloren, sodass viel stärker auch das Ordnungsrecht genutzt werden muss. Das ist natürlich schwer angesichts von 40 Jahren Neoliberalismus.

Meines Erachtens ist es die zentrale Aufgabe, die Umwelt- und Klimapolitik zur Gesellschaftspolitik zu machen. Das geht nicht ohne mehr soziale Gerechtigkeit.

Entscheidend ist dafür eine neue Idee von Fortschritt, der von den ökologischen Grenzen des Wachstums ausgeht und auf dieser Basis die Gestaltungs- und Verteilungsfrage stellt. Das tut keine Partei, übrigens auch kaum eine Umweltorganisation.

Das Hauptproblem ist, dass die Idee der europäischen Moderne, der wir viel zu verdanken haben, auf dem Glauben an eine Linearität aufbaut. Sie hat mit der zyklischen Zeit gebrochen, was damals eine große Leistung war.

Aber sie hat die Idee der Linearität immer mehr verengt auf wirtschaftliches Wachstum und technischen Fortschritt – auch weil sie von einer verhängnisvollen Naturvergessenheit geprägt wurde. Nahezu alle Vordenker der europäischen Moderne haben die Natur als verfügbare Masse gesehen.

Als Leitidee plädiere ich für eine neue soziale Emanzipation, also eine Befreiung des Menschen aus Zwängen, Abhängigkeiten und Systemen, auch von wirtschaftlich-technischen Zwängen, die in die Klimakrise geführt haben. Die neue Befreiung des Menschen, das muss auch eine Leitidee der Umweltdebatte werden.

Als Reaktion auf die Flutkatastrophe haben 50 prominente Wissenschaftler:innen Bundeskanzlerin Merkel aufgefordert, sich noch vor Ablauf ihrer Amtszeit zum Ziel von 100 Prozent erneuerbaren Energien bis 2035 zu bekennen und Energiewende-Barrieren zu beseitigen. Angenommen, sie würde es tatsächlich tun: Was könnte das so kurz vor der Wahl noch bringen?

Mir wird schlecht, wenn ich die Bundeskanzlerin zur Hochwasserkatastrophe erlebe. Wenn sie jetzt eingesteht, dass zu wenig getan wurde, ist das ein Spiel mit der Vergesslichkeit der Menschen.

Wer war denn von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin und hat die Klima-Beschlüsse von Bundestag und Kabinett aus den Vorjahren zurückgedreht? Wäre die Regierung den Vorgaben der Klima-Enquete von 1990 gefolgt und diesen Weg weitergegangen, dann würde unser Land heute 70 Prozent weniger Treibhausgase emittieren.

Und: Wer war in den letzten 16 Jahren Bundeskanzlerin mit Richtlinienkompetenz, ohne die – zugegeben unzureichenden – Klimaschutzpläne des Umweltministeriums zu unterstützen? Auch jetzt kann Merkel viel versprechen, sie trägt schon bald keine Verantwortung mehr.

Natürlich müssen die Bremsen beim Ausbau der erneuerbaren Energien gelockert werden, aber wir müssen auch runter von den viel zu hohen Verbräuchen. Es geht einfach nicht mehr so weiter wie bisher, selbst wenn auf eine solare Wirtschaft umgestellt wird.

Ausgangspunkt muss die ökologische Tragfähigkeit unseres Planeten für menschliches Leben sein. Da geht es nicht nur um das Klima und die Erneuerbaren, sondern genauso um ein massives Zurückfahren des Verbrauchs natürlicher Ressourcen.

Letztes Wochenende endete die Frist für die Staaten des Paris-Abkommens, um ihre verbesserten Klimaziele für 2030 einzureichen. Nur 110 Länder hielten sich daran, Großemittenten wie China und Indien ignorierten die Deadline. Erleben wir gerade das Scheitern des Paris-Abkommens?

Wir sind jetzt bei einer CO2-Konzentration in der Atmosphäre von fast 420 ppm. Das bedeutet, wir werden noch in diesem Jahrzehnt 430 ppm erreichen. Hinzu kommt die relativ lange Anpassungsfrist im Klimasystem. Das heißt: Wir haben quasi heute schon eine globale Erwärmung von 1,5 Grad Celsius verursacht.

Was 2015 in Paris an konkreten Planungen vorgelegen hat, bedeutet selbst bei einer vollständigen Umsetzung eine globale Erwärmung um 2,8 bis 3,2 Grad Celsius, je nach Rahmenannahmen. Und wenn wir uns ansehen, was seitdem passiert ist, dann liegen viele Länder deutlich hinter ihren damaligen Vorgaben zurück.

Ich fürchte, viele Regierungen werden sich immer mehr in Richtung Aufschieben bewegen: mit atmosphärischer Klimamanipulation etwa durch Sulfatspritzen, mit CCS und mit Kompensationsmaßnahmen in Entwicklungsländern. Und reiche Länder werden noch stärker auf Klimaanpassung setzen, statt schnell von den hohen Emissionen runterzukommen.

Aus meiner Sicht wird die Klimakrise die Unterschiede zwischen Arm und Reich dramatisch verschärfen.

Morgen veröffentlicht der Weltklimarat IPCC den ersten Teil seines neuen Sachstandsberichts. Aller Voraussicht nach ist mit noch dramatischeren Ergebnissen zu rechnen als beim Vorgängerbericht von 2014. Mit welchen Gefühlen sehen Sie dem entgegen?

Ich war selbst viermal bei den IPCC-Verhandlungen dabei. Ich finde es gut, dass wir immer mehr engagierte Naturwissenschaftler in der öffentlichen Debatte haben, denn im Anthropozän brauchen wir eine neue Allianz zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.

Was in dem Bericht steht, ist absehbar. Wir kommen immer näher an Kipppunkte des Erdsystems. Was mir fehlt, ist, dass zu wenig der Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Systemen analysiert wird.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die Geschichtsvergessenheit im Umgang mit dem Hochwasser. Nach den Überflutungen von 2002 wollte die Bundesregierung den Hochwasserschutz drastisch verschärfen, das Land auf ein 200-jähriges Hochwasser vorbereiten.

Die Regierung scheiterte im Bundesrat an der Mehrheit der Länder. Im Bundestag waren die Fraktionsvorsitzenden von CDU/​CSU und FDP, Angela Merkel und Guido Westerwelle, gegen den verstärkten Hochwasserschutz. Wieso ist das heute kein Thema mehr?

Fragen: Verena Kern

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