Ein Fuß- und Radweg endet plötzlich an einer stark befahrenen Schnellstraße, dahinter bauen Kräne eine moderne Stadt mit Hochhäusern.
Das 1,5-Grad-Ziel ist mit einem grünen Wachstumskurs nicht erreichbar, sagen die Autor:innen des neuen Szenarios. (Foto: Janar Siniväli/​Shutterstock)

Die Heinrich-Böll-Stiftung und das Konzeptwerk Neue Ökonomie haben kürzlich das erste globale 1,5-Grad-Szenario veröffentlicht, das ohne den Einsatz von Risikotechnologien wie CCS, Geoengineering und Nuklearenergie auskommt und stattdessen an den Konsum- und Produktionsmustern des globalen Nordens ansetzt – das "Societal Transformation Scenario for Staying Below 1.5°C", kurz STS. Also ein "gesellschaftliches Transformationsszenario, um unter 1,5 Grad zu bleiben".

Wozu brauchen wir überhaupt noch ein neues 1,5-Grad-Szenario?

Die bisher vom Weltklimarat IPCC aufgestellten globalen CO2-Minderungsszenarien bis 2100 gehen von einer Welt aus, in der die Wirtschaft in allen Regionen weiter wächst. Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, setzen sie vor allem auf technologischen statt auf gesellschaftlichen und politischen Wandel.

Da sich die absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen aber als Trugschluss erweist, fällt es den Modellen immer schwerer, anspruchsvolle Klimaziele wie das 1,5-Grad-Ziel bei einem rasant schwindenden globalen CO2-Budget zu erreichen.

Deshalb setzen die Modelle in großem Maßstab auf Technologien, die das CO2 gigatonnenweise wieder aus der Atmosphäre holen sollen. Die Fachbegriffe dafür lauten Negativemissionstechnologien oder englisch Carbon Dioxide Removal (CDR).

Bisher ist allerdings keine dieser Geoengineering-Technologien in größerem Maßstab einsetzbar, und es ist nicht abzusehen, ob sie jemals effektiv funktionieren werden.

Als technizistische Scheinlösungen ("Techno-Fixes") bergen sie außerdem das Risiko, dass sie die Lebenszeit der fossilen Industrie verlängern – was deren großes Interesse an solchen Technologien erklärt – und den akuten Handlungsdruck verringern. Nicht zuletzt gehen mit ihnen auch großmaßstäbliche Risiken und Nebenwirkungen für Menschen und Ökosysteme einher.

Viele der 1,5-Grad-Szenarien riskieren zudem einen "temperature overshoot", ein vermeintlich vorübergehendes Überschreiten der 1,5-Grad-Marke in den kommenden Jahrzehnten. Mithilfe der CDR-Technologien soll die globale Erhitzung dann zum Ende des Jahrhunderts wieder auf 1,5 Grad gebracht werden.

Dabei ist wissenschaftlich ungeklärt, ob das überhaupt so einfach möglich ist und ob nicht irreversible Schäden die Folge wären – vor allem, wenn während des "Overshoots" Kipppunkte im Klimasystem erreicht werden sollten.

Weniger Produktion und Konsum statt Hochrisiko-Kurs

Auch das alternative Transformationsszenario STS geht zunächst von anspruchsvollen technologischen Entwicklungen bei den erneuerbaren Energien und der Effizienzsteigerung aus. Der schnelle und flächendeckende Infrastrukturausbau vor allem für Wind- und Solarenergie sowie das Absinken der Emissionsintensität durch steigende Effizienz sind dabei grundlegende und unverzichtbare Voraussetzungen für die 1,5 Grad.

Das STS zeigt aber, wie durch weniger Produktion und Verbrauch im globalen Norden – durch Suffizienz und Lebensstiländerungen, aber auch Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen – das 1,5-Grad-Ziel zuverlässig und sozial gerechter erreicht werden kann, ohne auf Hochrisikotechnologien wie Geoengineering, CCS und Atomkraft angewiesen zu sein.

Dafür konzentriert sich das STS auf einige Schlüsselbereiche des Konsums im globalen Norden und trifft dort die folgenden Annahmen:

  • Verkehr: Der straßengebundene Verkehr geht stark zurück: beim Gütertransport um 62 Prozent bis 2050, beim Personenverkehr um 17 Prozent bis 2030 und um weitere 20 Prozent bis 2050 (jeweils gegenüber 1990).
     
    Das wird durch eine Re-Regionalisierung der Wirtschaft und eine bessere lokale Infrastruktur erreicht. Der hier noch verbleibende Verkehr verlagert sich vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel, Radfahren und Zufußgehen: minus 81 Prozent Autoverkehr im städtischen Raum, minus 52 Prozent im ländlichen Raum.
  • Fliegen: Die durchschnittliche Anzahl an Flügen pro Person im globalen Norden geht bis 2025 auf einen Flug im Jahr und bis 2050 auf einen Flug alle drei Jahre zurück. Dazu unten mehr.
  • Wohnen: Die durchschnittliche persönliche Wohnfläche sinkt um 25 Prozent, die Anzahl großer Haushaltsgeräte pro Person halbiert sich. Das setzt ein anderes (Zusammen-)Wohnen und darauf ausgerichtete Planungen etwa im Neubau voraus, aber auch eine andere Nutzung von existierendem Wohnraum und beispielsweise eine gemeinsame Nutzung von großen Hausgeräten wie Waschmaschinen in Mietshäusern.
  • Ernährung: Lebensmittelverschwendung und Überkonsum werden reduziert. Die Ernährungsweisen im globalen Norden orientieren sich an den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO für eine gesunde Ernährung mit 2.100 Kilokalorien pro Person und Tag. Der Fleischkonsum sinkt bis 2030 um 60 Prozent.

Für den globalen Süden geht das STS nicht von einer Verringerung wie im Norden, sondern von einem Anstieg der Verbrauchsniveaus aus, sodass sich die Konsummuster bis 2050 weitgehend angleichen.

Aus einer Perspektive der globalen Gerechtigkeit oder zumindest Verringerung der Ungerechtigkeit ist es entscheidend, dass die starken Emissionsreduktionen vom globalen Norden ausgehen und damit auch Raum für höhere Konsumniveaus im Süden lassen.

Gleichzeitig sind soziale Ungleichheit und daraus resultierende Emissionsniveaus im globalen Norden und Süden ein großes Problem, das mit dem Szenario nicht angesprochen werden kann.

Mit den beschriebenen Annahmen zeigt sich im STS ein starker Rückgang der Energienachfrage im globalen Norden. Durch den gleichzeitigen Ausbau der erneuerbaren Energien fallen die globalen CO2-Emissionen zwischen 2020 und 2030 um rund 50 Prozent sowie um weitere 22 Prozent bis 2050.

Die kumulierten Emissionen bleiben dabei innerhalb des CO2-Budgets für eine 66-prozentige Wahrscheinlichkeit, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das ist eine höhere Chance als in den meisten anderen 1,5-Grad-Szenarien – auch darüber wird selten gesprochen.

Jenseits von Modellen

Das STS soll ein Diskussionsaufschlag darüber sein, welche gesellschaftlichen Transformationspfade und sozio-ökologischen Zukünfte eigentlich möglich sind. Es gäbe auch viele andere Wege, Postwachstum als klimapolitische Notwendigkeit in die Praxis umzusetzen.

Aus Sicht der Autor:innen braucht es dafür mehr Transparenz über die sozio-ökonomischen Annahmen, die den Klimaszenarien zugrunde liegen. Das STS wurde mithilfe des Global Calculator erstellt, einem relativ einfachen, aber auch weitgehend transparenten Modell, das seine sozio-ökonomischen, politischen und ethischen Annahmen nicht hinter Algorithmen versteckt wie die hochkomplexen Integrated Assessment Models (IAMs), die üblicherweise für solche Szenarien verwendet werden.

Dadurch werden die Ergebnisse, aber auch die zugrunde liegenden Voraussetzungen und Annahmen diskutierbar und auch kritisierbar.

Nehmen wir das Beispiel der Annahmen zum Flugverkehr im globalen Norden, der auf einen Flug pro Person alle drei Jahre sinkt. (Im globalen Süden liegt diese Zahl wiederum leicht höher.) Das dürfte Widerstand hervorrufen, da das Fliegen in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten zu einem relativen Massenphänomen geworden ist.

Porträtaufnahme von Linda Schneider.
Foto: W. Christiansen

Linda Schneider

arbeitet als Referentin für inter­nationale Klima­politik bei der Heinrich-Böll-Stiftung mit Schwerpunkt auf "Techno-Fixes" und andere Schein­lösungen und ist in der Klima­bewegung aktiv. Sie hat das "gesellschaftliche Trans­formations­szenario" für das 1,5-Grad-Ziel gemeinsam mit Kai Kuhnhenn, Luis Costa, Eva Mahnke und Steffen Lange verfasst.

Tatsächlich ist der Flugverkehr eine der am schnellsten wachsenden Emissionsquellen. Der neueste Emissions Gap Report der UN geht davon aus, dass bei unveränderten Trends der internationale Flug- und Schiffsverkehr zwischen 60 und 220 Prozent der 1,5-Grad-kompatiblen Emissionen verbrauchen wird.

Ohne eine drastische Reduktion wird es also nicht gehen, denn auch der Ersatz von Kerosin etwa durch Agrotreibstoffe ist in diesen Größenordnungen nicht möglich.

Überdies zeigen Studien, dass im Jahr 2018 nur zwei bis vier Prozent der Weltbevölkerung überhaupt einen internationalen Flug angetreten haben – in der Vergangenheit war diese Zahl noch viel geringer. Es ist also vor allem eine Frage internationaler Gerechtigkeit, wie das verbleibende Emissionsbudget verwendet wird.

Gleichzeitig bedeutet ein Weniger an Flugverkehr keine automatische Einschränkung von Mobilität, wenn diese etwa durch einen besseren und bezahlbaren Schienenverkehr hergestellt werden kann.

Das STS und auch der Global Calculator sind nicht perfekt, aber sie sind Schritte in die richtige Richtung, um diese Debatten über gesellschaftliche und globale Fragen intensiver zu führen.

Dabei geht es natürlich nicht nur um wissenschaftliche Szenarien, sondern um eine gesellschaftliche Diskussion, wie wir der Klimakrise begegnen wollen: Ergreifen wir Maßnahmen, die diese und andere globale Krisen wie Ungleichheit, Umweltzerstörung und Autoritarismus noch verschärfen – oder setzen wir die sozial-ökologische Transformation auf ein klimagerechtes Gleis und streben Lösungen an, die auch die anderen Krisen ansprechen.

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