Neulich stieß ich im Netz auf einen Artikel von 2009, der mir auf unheimliche Weise aktuell schien. In dem Text kritisiert der Autor Adam Sacks die "Irrtümer der Klimabewegung". Einer der größten Irrtümer sei, so Sacks, unsere störrische Weigerung zuzugeben, dass wir den Kampf um Treibhausgasemissionen bereits verloren haben.
Denn wegen der sich selbst verstärkenden Rückkopplungseffekte wie dem tauenden Permafrostboden seien die Emissionen nicht mehr unter menschliche Kontrolle zu bekommen. "Es ist wirklich vorbei und wir haben verloren."
Hui. Das schrieb der Autor wohlgemerkt vor elf Jahren.
Ich würde Adam Sacks so weit zustimmen, dass die Klimakrise kein Problem der Zukunft ist, sondern bereits eines der Gegenwart, vor allem für Menschen im globalen Süden. Trotzdem vertraue ich lieber den wissenschaftlichen Prognosen, die uns noch ein Zeitfenster von knapp acht Jahren geben, in denen die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden kann.
Was schlägt Adam Sacks als Alternative zu unseren bisherigen "fatalen Irrtümern" vor? Etwas, das mich richtig sauer macht: Wir sollen zehntausend Jahre Zivilisation hinter uns lassen und dabei von unseren jagenden und sammelnden Vorfahren lernen.
Na großartig!, dachte ich. Das ist doch ein Lösungsvorschlag, mit dem wir echte politische Mehrheiten gewinnen können. Ich stelle mir gerade Bernie Sanders vor, wie er in seiner Wahlkampfrede steinzeitliche Methoden der Nahrungsgewinnung anpreist und Tausende ihm begeistert zujubeln. Error.
Mit großer Faszination, wenn nicht sogar Neid schaue ich in die Vereinigten Staaten und auf die Dynamik, die die Bewegung um Bernie Sanders und den Green New Deal dort entfaltet. Das Programm sieht eben nicht nur den Ausbau erneuerbarer Infrastruktur vor, sondern auch bezahlbaren Wohnraum und staatliche Gesundheitsversorgung für alle. Es hat das Potenzial, das Leben von Millionen von Menschen zu verbessern.
Sicher, der Green New Deal hat Schwachstellen. Er durchbricht nicht den Teufelskreis von Produzieren und Konsumieren, auf dem unser System basiert und der endlose Mengen von Rohstoffen verschluckt.
Die Linke hat Konzepte des Green New Deal mit klugen Gründen dekonstruiert. Wo aber bietet sie ein vergleichbares – besseres! – Konzept für eine Transformation, das soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz verwirklichen will? Ich habe mich umgeschaut.
Der Klimaplan von unten
Die Gruppe "Gerechte1komma5" hat dafür einen offenen Schreibprozess gestartet, um sozial gerechte Maßnahmen zu sammeln, mit denen die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden kann. Seit dem Sommer sind alle Menschen eingeladen, Lösungen für die Klimakrise zusammenzutragen – auf einer digitalen Plattform oder in analogen Schreibwerkstätten.
Seit dieser Woche liegt der so entstandene "Klimaplan von unten" in einer ersten Fassung vor.
Die Maßnahmen sind in sechs Bereiche gegliedert, darunter Energiedemokratie oder gerechte Wohn- und Raumplanung. Die Streichung des Dienstwagenprivilegs findet sich in der Sammlung ebenso wie ein Einfuhrstopp für Futtermittel oder die Anerkennung von Klimafolgen als Fluchtgrund.
Im Bereich "Reproduktion, Produktion und Konsumtion" geht es darum, ökonomische Rahmenbedingungen für eine Postwachstumsgesellschaft zu schaffen, die die menschlichen Bedürfnisse erfüllt. Dazu gehören etwa die Verringerung der Erwerbsarbeitszeit, der Ausbau eines solidarischen Sozialversicherungssystems oder die Einführung eines Maximaleinkommens.
Dorothee Häußermann
ist freiberufliche Referentin und Autorin. Sie studierte englische und deutsche Literaturwissenschaft in Marburg und Wales. Seit 2010 organisiert sie Klimacamps, Konferenzen und Aktionen zivilen Ungehorsams gegen Kohle. Ihre politische Arbeit wird aus der Zivilgesellschaft über die Bewegungsstiftung gefördert.
Alle Vorschläge sollen wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit überprüft werden, zum Beispiel von den Scientists for Future. Außerdem ist es ein wichtiges Anliegen der Moderator:innen der Kampagne, die Perspektive von stark betroffenen Menschen und den Blick auf globale Gerechtigkeit einzubinden.
Die erste Auflage des "Klimaplans von unten" ist noch eine Baustelle. Sie ist ein Aufruf, sich an der weiteren Entwicklung des Klimaplans zu beteiligen.
Das Wiki als Grundlage für den offenen, gemeinschaftlichen Schreibprozess wird weiterhin bestehen bleiben. Die digitale Schreibplattform kann genutzt werden, um bestehende Maßnahmen zu diskutieren, zu kommentieren und neue Ideen einzubringen. Diese werden in weitere Versionen des Klimaplans einfließen. Für den Sommer ist eine erste Druckauflage geplant.
Eine "Netto-Null" weckt keine Lust auf Veränderung
Der Klimaplan ist ein Versuch zu zeigen, dass Gerechtigkeit, Demokratie und Klimaschutz keine Gegensätze sind, sondern nur im Einklang miteinander sinnvoll verwirklicht werden können. Das ist dringend notwendig: Zu oft werden Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit als Gegensatz dargestellt.
Das ist leider nicht nur schlechtes "Framing", sondern zu oft bittere Realität. Die wenigen zaghaften "Klimaschutzmaßnahmen" gehen häufig auf Kosten sozial Schwächerer – ob es indigene Gemeinschaften sind, die für Waldschutz und andere Klimakompensationsmaßnahmen von ihren Lebensgrundlagen abgeschnitten werden, ob es Menschen hierzulande sind, die aufgrund energetischer Sanierung ihre Miete nicht mehr zahlen können, oder ob es kleine Bauernhöfe sind, für die Investitionen, um sich an Umweltauflagen anzupassen, existenzbedrohend sind. So entsteht Unmut über eine vermeintliche Öko-Diktatur, so wird gesellschaftliche Spaltung verschärft.
Die Bundesregierung hat Angst vor diesen sozialen Verwerfungen und begegnet ihr mit Pfennigfuchserei: Nehm ich dir fünf Cent hier, bekommst du sechs Cent dort. Die dicken Pfründen bleiben jedoch unangetastet. Eine massive Umverteilung von Ressourcen – weg von fossilen Industrien und hin zu ökologischen und sorgenden Wirtschaftszweigen, weg von Verursachern der Klimakrise hin zu den Betroffenen – bleibt aus.
Ein großer Teil der Klimabewegung hat offenbar ebenfalls Angst – vor gesamtgesellschaftlichen Entwürfen. Ein Argument hierfür mag sein, dass eine naturwissenschaftlich gestützte Forderung nach Emissionsreduktion der kleinste gemeinsame Nenner quer durch politische Lager ist und dadurch eher durchgesetzt werden kann als weltanschaulich behaftete Konzepte.
Zugegeben, Begriffe wie "Netto-Null" und "Klimaneutralität" klingen seriöser als Umverteilung. Aber hat die Aussicht auf eine "Null" jemals politische Energien freigesetzt?
Selbst der Weltklimarat hat in seinem 1,5-Grad-Sonderbericht "rasche, weitreichende und beispiellose Veränderungen in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft" angemahnt – worauf warten wir noch?
Mir gruselt es vor dem Tag, an dem Björn Höcke und sein völkisch-nationaler Flügel mit einem Sozialprogramm für Deutsche um die Ecke kommen und dieses in den Menschen mehr Begeisterung für Veränderung weckt als die "Null" der Klimabewegung.
Lösungen zwischen E-Tretrollern und Utopie
So weit will es die Kampagne "Gerechte 1,5 Grad" nicht kommen lassen. Die Initiative entsprang der Überlegung, dass es anschlussfähige Vorschläge braucht, um das Mantra der Alternativlosigkeit und der damit verbundenen Hoffnungslosigkeit zu brechen.
Radikale soziale Bewegungen haben Kohlekraft und Klimakrise erfolgreich auf die Agenda gesetzt. In der Debatte um die Lösungen werden sie jedoch nicht gehört. Die Modellprojekte, in denen Utopien im Kleinen ausprobiert werden, sind nicht auf großen Maßstab skalierbar und haben darum keine Aussicht, "hegemonial" zu werden – also gesellschaftlich dominant.
Maximalforderungen nach sofortigem Kohleausstieg oder der Abschaffung des Kapitalismus bleiben vage und zeigen keinen Weg auf, wie wir im jetzigen System die ersten Schritte zu einer grundlegend anderen Gesellschaft gehen können. Genau das ist aber nötig, um Menschen davon zu überzeugen, dass ein umfassender Wandel möglich ist.
Es gilt also, dem Protest gegen etwas einen konstruktiven Fahrplan hinzuzufügen. Dieser Plan darf sich nicht um die politischen Institutionen herumschlängeln. Er muss die Route durch die Ebene der Macht erklären.
Es gilt also, radikale realpolitische Lösungsansätze zu entwickeln. Damit sind weder E-Tretroller gemeint noch die Rückkehr zum Sammeln und Jagen noch eine Vision für eine perfekte Gesellschaft in 100 Jahren – sondern das Feld dazwischen.
Wer setzt den "Klimaplan von unten" um?
Der "Klimaplan von unten" beackert dieses Feld. Auf 260 Seiten macht er sichtbar, dass Lösungen für die Klimakrise durchaus vorhanden und unter den jetzigen Bedingungen umsetzbar sind.
Die Frage ist nun, wie und von wem diese Lösungen um- beziehungsweise durchgesetzt werden. Dabei wird es schwierig. Die Sammlung der Maßnahmen lässt sich basisdemokratisch gestalten, doch ein Verbot von Kurzstreckenflügen oder die Abschaffung der Subventionen in umweltschädliche Industrien kann zum derzeitigen Zeitpunkt nur eine Regierung durchsetzen.
Es braucht nun also eine große Anzahl an Akteuren, die das Papier mittragen und Druck auf die Entscheidungsebene aufbauen. Doch bis jetzt unterstützen nur wenige Gruppen und Einzelpersonen offiziell den "Klimaplan von unten".
Dessen Lösungsansätze sind sehr unterschiedlich und zudem noch immer im Werden, sodass es für einige Organisationen möglicherweise schwierig wird, das Papier zu unterstützen. Es ist zu erwarten, dass Forderungen wie das bedingungslose Grundeinkommen vielen Umweltverbänden und NGOs zu weitgehend sind. Andere Maßnahmen werden wiederum radikaleren Akteuren zu kleinschrittig sein.
Der "Klimaplan von unten" ist eine großartige Sammlung, von dem sich politische Gruppen inspirieren lassen können. Es ist jedoch kein kampagnentaugliches Papier aus einem Guss wie ein Green New Deal.
Eine Perspektive könnte sein, die 260 Seiten des Klimaplans in einem Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen politischen Organisationen auf 26 Seiten einzudampfen, zu einem Programm, das politische Mehrheiten hinter sich vereinen kann.
Dafür müssten alle progressiven Organisationen über ihre Schatten springen. Umweltverbände, Gewerkschaften und Kirchen müssten mutiger werden. Radikale Gruppen müssten sich von der Vorstellung lösen, dass jeder konkrete Schritt ein Verrat an der Utopie ist.
Vielleicht besetzen bald Hunderte Menschen in weißen Anzügen so lange den Bundestag, bis es die steuerfinanzierte Bahncard 50 für alle gibt statt Kaufprämien für Elektroautos. Vielleicht wird es bald Nichtregierungsorganisationen geben, die mit smarten, mainstreamtauglichen Online-Petitionen Druck für ein Maximaleinkommen machen.
Oder wird die Linke einsam und erleuchtet auf ihren korrekten Analysen sitzenbleiben?
"Zu spät" – für was?
Elf Jahre nach dem Artikel von Adam Sacks mehren sich die Stimmen, die verkünden, es sei zu spät, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Prominentes Beispiel ist der Essay "Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?" des US-amerikanischen Schriftstellers Jonathan Franzen.
Während Sacks noch keine gangbare Perspektive eröffnet, ruft Franzen dazu auf, "Hoffnung neu zu denken". Aus der Akzeptanz für die Klimakatastrophe folge keineswegs Resignation oder politischer Rückzug, sondern eine Neudefinition von Klimaschutz: Gegen Ungleichheit und Hass einzutreten gehört für Franzen genauso dazu wie die Stärkung von Demokratien und Gemeinschaften.
"Zu spät" kann es nur sein, wenn wir die ganze Welt durch die CO2-Brille sehen. "Zu spät" ist der große Bruder der Countdown-Kampagnen, die uns einhämmern, dass wir nur noch wenige Jahre haben, um einen unumkehrbaren Klimawandel zu stoppen.
Was tun wir dann in acht Jahren? Es droht ein riesiger Post-"Hopenhagen"-Moment, der Menschen ausgebrannt und deprimiert zurücklässt, wie nach dem UN-Klimagipfel 2009 in Kopenhagen, der in den Medien zur letzten Chance für die Weltrettung aufgebaut worden war.
Ein Moment, der uns vor allem sprachlos zurücklassen wird, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum unseres Narrativs überschritten ist. Es geht nicht nur um Kommunikationsstrategie, sondern um Naturwissenschaft, darum müssen wir das verbleibende Zeitfenster verdammt ernst nehmen.
Doch es darf nicht einziger Fluchtpunkt unseres politischen Handelns sein. Nicht unsere einzige Hoffnung.
Es gibt ihn nicht – den einen großen Tag, nach dem wir entweder gewonnen oder verloren haben. Wir befinden uns in einem ständigen, generationenlang andauernden Kampf um unsere Rechte – um Lebensgrundlagen, Selbstbestimmung, um den Schutz der Schwächeren und der Natur.
Wir werden zwischendurch Ziele erreichen, Spielräume erweitern. Dann werden wir wieder verteidigen müssen, was wir längst für selbstverständlich hielten. Wir sprinten nicht, wir laufen Marathon.
Australien in Flammen, Menschen in Indien, die um ihr Trinkwasser kämpfen. Die Bilder im letzten Jahr haben in mir Grauen und unendliche Trauer ausgelöst. Sie sind für mich aber kein Grund zum Aufgeben.
Es gibt weiterhin so viele Gründe, für Veränderung zu kämpfen. Weil ich wütend bin über Unrecht. Weil ich solidarisch mit denen sein will, die es schlimmer trifft als uns. Weil die gemeinsame Arbeit für Widerstand und Alternativen mich begeistert. Weil ich es mit meiner Selbstachtung nicht vereinbaren kann, tatenlos danebenzustehen.
Die gute Nachricht ist: Für eine gerechte Gesellschaft ist es nie zu spät.