"Schulranzen verändern die Welt, nicht Aktenkoffer", verkündete Christian Lindner im Bundestagswahlkampf 2017 auf einem der Wahlplakate mit seinem Konterfei. Bei der wachsenden Zahl von Schülerinnen und Schülern, die seit drei Monaten jeden Freitag für mehr Klimaschutz demonstrieren, statt in die Schule zu gehen, will der FDP-Chef von seinem damaligen Slogan offenbar nichts mehr wissen.
"Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen", watschte er die Schulstreik-Bewegung "Fridays for Future" am Wochenende auf Twitter ab und stellte damit die Kompetenz junger Menschen infrage, sich zu Klimawandel und Klimapolitik zu äußern. "Das", behauptete Lindner, "ist eine Sache für Profis."
Doch die Profis haben sich nun auf die Seite der Schülerinnen und Schüler gestellt. "Sehr berechtigt" und "gut begründet" seien die Anliegen der demonstrierenden jungen Menschen, erklären Hunderte von deutschen, österreichischen und schweizerischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus allen Fachbereichen, vom Klimaforscher bis zur Ökonomin.
"Lokführer streiken auch nicht in der Freizeit"
In einer gemeinsamen Stellungnahme solidarisiert sich ihre Initiative "Scientists for Future" ausdrücklich mit der Klimastreik-Bewegung und betont: Die derzeitigen Maßnahmen zum Klima-, Arten-, Wald-, Meeres- und Bodenschutz "reichen bei Weitem nicht aus".
Ohne "tiefgreifenden und konsequenten Wandel" sei die Zukunft der jungen Menschen in Gefahr. Diese forderten deshalb zu Recht, dass sich "unsere Gesellschaft ohne weiteres Zögern auf Nachhaltigkeit ausrichtet".
Aus den gut 700 Erstunterzeichnern, mit denen die Initiative letzte Woche startete, sind mittlerweile schon über 12.000 Unterstützer geworden – und damit deutlich mehr, als die Initiatoren selbst erwartet hatten.
Bei den internationalen Schülerstreiks am kommenden Freitag, die nach derzeitigem Stand in 50 Ländern und in Deutschland in 170 Orten stattfinden werden, soll die Unterschriftenliste von Mitorganisator Eckart von Hirschhausen symbolisch an "Fridays for Future" übergeben werden.
Von den Schülerinnen und Schülern zu verlangen, dass sie nicht in der Schulzeit, sondern in ihrer Freizeit demonstrieren sollen, sei "absurd", sagte von Hirschhausen, als er gemeinsam mit anderen Organisatoren am heutigen Dienstag die Initiative in Berlin vorstellte. "Piloten und Lokführer streiken ja auch nicht in ihrer Freizeit."
Unter anderem Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hatte die Streikenden kritisiert und erklärt, sie begrüße zwar das Engagement für den Klimaschutz, die Schulpflicht aber gehe vor.
Digitalisierung hat Priorität, Klimaschutz nicht
Wie dringlich ehrgeiziger Klimaschutz sei, hätten viele noch nicht begriffen, sagte Maja Göpel vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU). Die Veränderungen der Umwelt, die der Mensch derzeit vornimmt, seien irreversibel.
Das müsse man sich klarmachen, sagte Göpel. Wenn Ökosysteme erst einmal gekippt seien, könne dies nicht mehr rückgängig gemacht werden. Eben deshalb müsse schnell umgesteuert werden.
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Dass die Politik vor weitreichenden Maßnahmen zurückschrecke, sei nicht verständlich. Schließlich werde etwa die Digitalisierung einfach als Fortschritt aufgefasst und hingenommen – dabei gehe sie mit tiefgreifenden Umwälzungen und hohen Jobverlusten einher.
"Warum können wir mit demselben Elan nicht auch die ökologische Transformation anpacken?", fragte Göpel und forderte eine Diskussion darüber, welchen Zielen künftiges Wirtschaftswachstum dienen soll.
Die notwendige Transformation weg von fossilen Energien sei technisch machbar und ökonomisch sinnvoll, betonte der Energieforscher Volker Quaschning von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW). Schon bis 2040 könne und müsse Deutschland klimaneutral sein.
Schüler wollen weitermachen bis zum Erfolg
100 Prozent erneuerbare Energien seien in Kombination mit Speichern möglich und auch finanziell zu bewältigen. Doch keine Partei im deutschen Bundestag, nicht einmal Grüne und Linke, vertrete bislang ein Programm, das weit genug gehe, kritisierte Quaschning.
Der Schulstreik sei ein Impuls, ein Anstoß, dass jetzt etwas passieren müsse, sagte Quaschning. "Wir müssen den Schülerinnen und Schülern dankbar sein."
Dass die Verantwortlichen in der Politik das auch so sehen, zeichnet sich bislang nicht ab. "Wir streiken seit drei Monaten und haben viel Aufmerksamkeit bekommen", sagte Luisa Neubauer von "Fridays for Future". Klimapolitisch habe sich aber noch nichts geändert. Deshalb werde der Schulstreik weitergehen.
Man werde erst damit aufhören, wenn die Politik einen glaubwürdigen Plan vorlege, wie die Klimakrise abgewendet werden kann – und wenn genug Handlungswillen zu erkennen sei. "Es gibt keine Ausrede mehr", sagte Neubauer. Weiterzumachen wie bisher sei für ihre Generation keine Option.