Der russische Einmarsch in die Ukraine hat einen spürbaren Dominoeffekt auf andere Staaten und in besonderer Weise auf die Europäische Union. In der EU suchen Menschen aus der Ukraine Zuflucht vor Bomben und Granaten, in die EU fliehen Menschen aus Russland, die sich mit dem autoritären und repressiven Regime nicht länger abfinden können, und es ist auch die EU, wo sich sich die Abkehr von den fossilen Brennstoffen beschleunigt. Hier findet der Übergang zu grüner Energie statt – ein Prozess, dem die "Militäroperation" in der Ukraine nun einen weiteren Impuls verleiht.
Das Klima stand in Russland niemals ganz oben auf der Tagesordnung. Die Regierung hatte erst in den letzten zwei Jahren begonnen, laut und ernsthaft darüber zu sprechen. Und jetzt, wo die Umwelt- und Klimadebatte gerade in Gang gekommen ist, muss sie schon wieder aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen weichen.
Während die Welt sich in Richtung einer "grünen" Zukunft bewegt, verlangsamt das ohnehin hinterherhinkende Russland sein Tempo. Den Verzicht der EU auf Kohle-, Öl- und Gasimporte kann das Land nur durch den beschleunigten Einsatz neuer Technologien ausgleichen, aber ohne internationale Zusammenarbeit ist das schwierig und in einigen Bereichen – zu denen die Dekarbonisierung gehört – sogar unmöglich.
Darüber hinaus hat die "Spezialoperation" einen fruchtbaren Boden für die Aufhebung von Teilen des Naturschutzrechts und für Repressionsmaßnahmen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und einzelne Akktivisten im Umweltbereich geschaffen. Kürzlich wurde im russischen Parlament sogar der Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen vorgeschlagen, weil es unter den jetzigen Umständen erforderlich sei, von der Erfüllung "nicht mehr aktueller" ökologischer Verpflichtungen zurückzutreten.
Vor diesem Hintergrund sind die Beteuerungen der russischen Regierung, dass die Klimaagenda unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht an Aktualität verliere, sehr infrage zu stellen. Als Reaktion auf den Vorschlag, aus dem Paris-Prozess auszusteigen, erklärte der Vorsitzende des Umweltausschusses im Parlament, Dmitri Kobylkin, dass Russland nach wie vor CO2-Neutralität anstrebe. Sein Stellvertreter Wjatscheslaw Fetissow versicherte, Russland habe nicht die Absicht, die sich aus dem Abkommen ergebenden Verpflichtungen aufzukündigen.
Aber wie so oft kann sich in Russland alles von jetzt auf gleich ändern. Natürlich gab es schon vor dem 24. Februar Zweifel an der Klimapolitik, besonders an den Klimaprojekten, die 2021 in Regierungs- und Wirtschaftskreisen intensiv diskutiert wurden. Wie ist es also um die Klimaprojekte in Russland bestellt und welche neuen Hindernisse für ihre Umsetzung sind jetzt entstanden?
Der eigene Weg
Das ganze vergangene Jahr gab es in Russland rege Debatten über die nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft, die Regulierung der Treibhausgasemissionen und den CO2-Handel. Diverse Unternehmen versuchten, Nachhaltigkeitsprinzipien in ihre Strategien zu integrieren und in entsprechende Rankings aufgenommen zu werden.
Das plötzlich erwachte Interesse hatte zwei Gründe. Erstens hat der geplante CO2-Grenzausgleich alle aufgeschreckt. Die EU will damit Importe verteuern, wenn sie bestimmte Klimastandards nicht einhalten. Die internationale Unternehmensberatung KPMG errechnete, dass Russlands Exportwirtschaft nach Einführung des Grenzausgleichs in den Jahren 2026 bis 2035 einen Verlust von 15,5 bis 37,7 Milliarden Euro zu erwarten habe.
Zweitens: Russland, das über riesige Waldressourcen verfügt, wollte im großen Umfang von Klimaprojekten profitieren. Präsident Putin erklärte, dass der Mittelzufluss aus solchen Projekten über 50 Milliarden US-Dollar im Jahr betragen könnte, und rief die russischen Unternehmen auf, Klimaprojekte im eigenen Land zu entwickeln.
Anfang dieses Jahres sagte Putins Klima-Sonderbeauftragter Ruslan Edelgerijew, oberstes Ziel für die russische Wirtschaft müsse es sein, mit den Einsparungen von Klimaprojekten in die globalen CO2-Märkte einzusteigen. Inzwischen haben sich die Bedingungen jedoch so stark verändert, dass die früheren Pläne entweder sinnlos geworden sind oder völlig andere Inhalte bekommen haben.
Bisher war die russische Klimaagenda auf den Westen ausgerichtet, aber inzwischen ist eine Hinwendung nach Osten zu beobachten, nach China, Indien und zur Eurasischen Wirtschaftsunion mit einigen früheren Sowjetrepubliken. Im April gab es Berichte über die mögliche Einführung eines "Schulden gegen Klima"-Mechanismus: Armenische Staatsschulden gegenüber Russland könnten durch gemeinsame Klimaprojekte beglichen werden.
Wjatscheslaw Wekowzew, Mitglied im internationalen Expertennetzwerk für Treibhausgasüberwachung Verico in Deutschland und Chef der russischen Organisation Ecopolis, kommentierte die Nachricht gegenüber Klimareporter° so: "Diese Interaktion mit Armenien ist eine Möglichkeit, der Welt zu zeigen, dass Russland mit seinen Klimaprojekten auf den internationalen CO2-Märkten Fuß fassen kann und dass verschiedene Formen des CO2-Handels von nationalen Experten überprüft und von anderen Ländern anerkannt werden können."
Da eine Anerkennung durch westliche Zertifizierer in den nächsten Jahren nicht zu erreichen sei, hält der Experte ähnliche Verhandlungen mit Ländern wie China und Kasachstan, deren CO2-Märkte den europäischen ähnlich sind, für wahrscheinlich. "Die politische Hinwendung zu anderen Teilen der Welt ist möglich, sie gibt uns einen Aufschub von zwei oder drei Jahren, aber die Weltwirtschaft und der EU-Grenzausgleich werden sich nicht in Luft auflösen – auch China wird bald ein vergleichbares Instrument zur CO2-Regulierung einführen."
Chinas andere Interessen
Wekowzew erinnert daran, dass das europäische Handelssystem vor allen anderen entstanden ist und als das fortschrittlichste gilt, sodass die CO2-Märkte des Ostens zukünftig mit den EU-Mechanismen synchronisiert werden müssen. Er ist der Ansicht, dass die Klimaprojekte in Russland zwar nicht zum Stillstand gekommen, aber aufgrund der militärischen Verschärfung in der Ukraine in den Hintergrund gerückt seien. Bis zum UN-Klimagipfel COP 27 im Herbst werde man eine neue Welle von Aktivitäten russischer Unternehmen und Regierungsstellen bei den Klimaprojekten sehen, schätzt Wekowzew.
Im September soll zudem im Rahmen des Sachalin-Experiments der erste regionale CO2-Markt in Russland eröffnet werden, auf dem Zertifikate aus laufenden Klimaprojekten gehandelt werden können. Einen gesamtrussischen CO2-Markt gibt es bisher nicht, er soll schrittweise auf Grundlage der Erfahrungen der Vorreiter-Regionen entstehen. Nach Sachalin könnten in nächster Zukunft die Gebiete Irkutsk und Kaliningrad, Baschkirien und die Region Chabarowsk hinzukommen.
China hat einen ähnlichen Weg eingeschlagen. Auch dort begann das Experiment in einzelnen Provinzen, während der nationale CO2-Markt erst im vergangenen Jahr eröffnet wurde. Zurzeit beträgt der Abstand Russlands zu seinem Nachbarn etwa fünf Jahre.
Einige russische Experten glaubten kurz nach Beginn der "Spezialoperation" in der Ukraine, dass China – angesichts seines Verbrauchs russischer fossiler Brennstoffe und der Lieferung dazu erforderlicher Technologien – nun Russlands neuer Verbündeter würde. Statt neue Technologien voranzubringen und Russlands Abhängigkeit vom Verkauf fossiler Energieressourcen zu verringern, sollte der Export nach Osten umgelenkt werden. Bislang hat China jedoch die Importmenge von russischem Öl nicht erhöht.
"Eines der wichtigsten Ereignisse der COP 26 bestand darin, dass die USA und China eine Zusammenarbeit im Bereich des Klimaschutzes offiziell vereinbart haben", erklärt Michail Julkin, Experte für CO2-arme Entwicklung und Chef der Beratungsfirma Carbon Lab. Damit hätten sich auf dem Glasgower Klimagipfel zwei der weltweit führenden Volkswirtschaften und größten Treibhausgasemittenten auf eine strategische Partnerschaft zur Dekarbonisierung geeinigt.
"Darum sollte man sich auch nicht allzu sehr auf China verlassen", meint Julkin. "China wird nicht seine eigenen Interessen einem Risiko aussetzen, nur um Russland zu unterstützen, denn das würde die getroffenen Vereinbarungen gefährden, mit denen Chinesen und Amerikaner sich an die Spitze des wichtigsten Trends gestellt haben."
Klimaprojekte mit Problemen
Die russischen Klimaprojekte stecken noch in den Kinderschuhen – genau wie der Rest der Klimaagenda. Die vielen neuen Dekarbonisierungs-Anlagen und -Farmen haben noch nichts mit einer tatsächlich funktionierenden Praxis zu tun, sie dienen nur als "Forschungsfelder". Auch gibt es keine vollwertige landesweite Überwachung der Treibhausgasemissionen – viele russische Unternehmen wissen nicht genau, wie hoch ihre Emissionen sind.
Und für das Gesetz zur Regulierung der Treibhausgasemissionen, das dieses Jahr in Kraft getreten ist, wurde aufgrund der Lobbytätigkeit einer Reihe von Industrieunternehmen ein "weiches" Regulierungsmodell eingeführt, das viele Experten für wenig wirksam halten, während die russische Wirtschaft auf freiwilligen Klimaprojekten beharrte und die Einführung von Marktmechanismen, die gesetzliche Regulierung der Emissionen und den CO2-Handel auf staatlicher Ebene kategorisch abgelehnt hat.
Das heißt jedoch nicht, dass freiwillige Klimaprojekte nun in großer Zahl durchgeführt werden. Auch dass es hier in naher Zukunft eine Welle neuer Initiativen geben wird, ist eher unwahrscheinlich. Da russische CO2-Emissionsrechte auf den internationalen Märkten nicht mehr gefragt sind, wollen selbst Unternehmen, die Maßnahmen zur Emissionsreduzierung durchführen, keinen Aufwand zum Ausweisen dieser Maßnahmen als Klimaprojekte mehr betreiben.
Hindernisse bestehen jetzt nicht nur beim Verkauf von CO2-Zertifikaten – die Hauptabnehmer saßen im Westen –, sondern auch bei der Zertifizierung von Klimaprojekten. Beispielsweise arbeiten die freiwilligen Standards Verra (USA) und Gold Standard (Europa) zurzeit nicht mit Russland zusammen.
"Aber es können immer noch Möglichkeiten gefunden werden, Russland ist nicht vollständig vom Markt ausgeschlossen", sagt Wjatscheslaw Wekowzew. Dem Experten zufolge können Projekte immer noch über den Global Carbon Council der Golfstaaten oder über den Social Carbon Standard, der Brasilien sowie afrikanische und asiatische Länder verbindet, angemeldet und verifiziert werden. "Die Frage ist nur, wo man Käufer findet."
Es gibt in Russland nur wenige Klimaprojekte, die nach internationalen Regeln durchgeführt wurden. Dazu gehören einige Initiativen bei der Öl- und Gasförderung, für die sogenannte Upstream Emissions Reductions ausgegeben wurden, und nur ein einziges langfristiges Wald-Klima-Projekt im Altai. Da es keine umfassende staatliche Emissionsregulierung gibt, reichen punktuelle, über das riesige Land verteilte Initiativen für den Übergang zu einer CO2-armen Entwicklung einfach nicht aus: Nötig ist eine wahre Flut von Klimaprojekten.
Neuanfang steht infrage
Und nicht nur das: Auch eine nationale Zertifizierungsstelle wird gerade erst aufgebaut. "Es wird sich zweifellos jemand finden, der nicht besonders 'grüne' Projekte zertifiziert, die Europa dann nicht als Klimaprojekte anerkennen wird", meint Wekowzew. "Jetzt wird eine Phase der Neugründung und Auslese beginnen – frühestens in zehn Jahren wird der Westen die russischen Validierungs- und Zertifizierungsinstitutionen anerkennen."
Im vergangenen Jahr haben die russischen Behörden Organisationen, die bisher noch nicht in diesem Bereich tätig waren, mit der Prüfung und Validierung der CO2-Berichterstattung betraut. Nach Ansicht von Michail Julkin sollten für diese Aufgabe jedoch nur Unternehmen ausgewählt werden, die sich darauf spezialisiert haben.
"Die Kriterien, die eine Prüforganisation erfüllen muss, scheinen eher formal zu sein", sagt der Experte. Weder Branchenerfahrung noch eine spezielle fachliche Qualifikation würden vorausgesetzt. Julkin: "Wenn man noch nie mit so einer Überprüfung zu tun hatte, hilft auch ein Doktortitel in Geografie wenig."
Im Jahr 2012 ist Russland nicht der zweiten Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls beigetreten – seitdem hat die Bedeutung von Klimaprojekten im Land stark abgenommen und der Verkauf von CO2-Emissionsrechten daraus ist praktisch zum Erliegen gekommen. Zwischen 2008 und 2012 gab es jedoch in ganz Russland über 100 Klimaprojekte, von denen einige tatsächlich zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen beigetragen haben. Sie konnten ihre so generierten CO2-Zertifikate erfolgreich verkaufen.
Heute sind alle diese Projekte, mit Ausnahme des Altai-Waldprojekts, in Vergessenheit geraten. Neue Anforderungen wurden geltend gemacht, während früheren Initiativen – hauptsächlich zur Energieeinsparung – der Status als Klimaprojekt entzogen wurde. Bis vor ein, zwei Jahren war in Russland nicht mehr viel von Klimaprojekten zu hören.
Nach der langen Stagnationsphase muss Russland neu lernen, wie man solche Initiativen – möglichst nach internationalen Standards – ins Leben ruft und sich auf dem globalen CO2-Markt einen Namen macht. Das war schon vor der militärischen Eskalation in der Ukraine nicht einfach. In dem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Welt die jährlichen Mega-Waldbrände in Sibirien sehr genau im Auge behält. Da die Wälder das Kernstück der russischen Klimapolitik darstellen, wird die Aufmerksamkeit bei Waldinitiativen besonders hoch sein.
Obwohl die Entwicklung von Klimaprojekten in Russland schwieriger geworden ist, muss sie dennoch weiterverfolgt werden, wenn das Land sich nicht aus der globalen Wirtschaft verabschieden will. Momentan jedoch befindet sich die russische Klimaagenda – wie auch viele andere Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens – in einem Zustand der Unbestimmtheit, was die vor nicht allzu langer Zeit erreichten Fortschritte erheblich verlangsamt oder gar zunichtemacht.
Der Beitrag wurde am 28. August korrigiert. Russland hatte mit seinen Waldressourcen noch nicht in großem Umfang von Klimaprojekten profitiert, sondern hatte dies erst geplant.
Den Beitrag in russischer Sprache finden Sie hier.
Wie diese Artikelserie entstand
Im August 2021 begannen unabhängige Journalist:innen und Expert:innen sich in einem Projekt der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) mit der Frage zu befassen, wie Russland das Pariser Klimaabkommen einhalten und zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise finden kann. Das Land ist weltweit einer der größten Emittenten von Treibhausgasen, seine Ökonomie ist eng mit der Nutzung fossiler Brennstoffe verbunden. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine löste zudem eine scharfe Debatte aus, welche Rolle das Land in der internationalen Klima-Gemeinschaft noch einnehmen kann.
Klimareporter° möchte zu dieser Debatte beitragen und veröffentlicht im Rahmen des DGO-Projekts entstandene Texte in einer Beitragsserie.
Aufgrund der Repressalien, denen Journalist:innen und Expert:innen seitens der russischen Regierung ausgesetzt sind, werden einige Texte unter Pseudonym veröffentlicht.
Klimareporter° arbeitet dabei neben der DGO mit weiteren Organisationen zusammen, darunter Stiftungen wie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Aufgrund der schwierigen Situation für demokratisch orientierte Organisationen in Russland können nicht alle Unterstützer:innen öffentlich genannt werden. Beteiligt sind auch weitere Medien wie DW Russland und das Journalistennetzwerk N-Ost.