Seit Beginn der sogenannten Spezialoperation Russlands auf dem Gebiet der Ukraine und der Verhängung umfangreicher externer Sanktionen ergreifen die russische Regierung und die Legislative Maßnahmen zur Anpassung der Wirtschaft an die Folgen der Sanktionen. Eine Reihe dieser Initiativen könnte zu einer Verschlechterung der Umweltsituation im Land führen. Das bezieht sich sowohl auf das verfassungsmäßig festgeschriebene Recht der Bürger auf eine lebenswerte Umwelt als auch auf Gefahren für die Ökosysteme.
Im Folgenden einige Beispiele für derartige Initiativen.
Am 26. März dieses Jahres verabschiedete die Duma, das russische Parlament, ein von der Regierung eingebrachtes Gesetz, mit dem auch mehrere Umweltinitiativen auf föderaler Ebene unter dem Vorwand der Sanktionen aufgeschoben werden.
So wurde etwa der Abschluss eines Experiments zur Begrenzung von Schadstoffemissionen um zwei Jahre verschoben, von Ende 2024 auf Ende 2026. An dem Anfang 2020 gestarteten Experiment nehmen zurzeit zwölf Städte teil, überwiegend Orte im Ural und in Sibirien mit hoher industrieller Verschmutzung.
Das föderale Projekt mit dem Namen "Saubere Luft" sah eine Reduzierung der Schadstoffemissionen um 20 Prozent bis 2024 vor. "Saubere Luft" ist wiederum Bestandteil des nationalen Projekts "Ökologie", eines von mehreren derartigen Projekten in Russland für den Zeitraum von 2019 bis 2024, deren Umsetzung Wladimir Putin durch Präsidialerlass angeordnet hat. Ebenfalls um ein Jahr – auf September 2023 – verschoben werden die Pläne zur Einbeziehung neuer Städte in das "Saubere Luft"-Experiment.
Umweltbelastende Industrieanlagen erhalten Aufschub
Gleichermaßen verschiebt die Regierung auch die Frist für die gesetzlichen Anforderungen beim Übergang zur Normierung nach den "besten verfügbaren Techniken" (BVT). Ziel der 2014 eingeleiteten BVT-Reform ist, die Industrie zu modernisieren und den Zufluss der dafür nötigen Investitionen zu gewährleisten, während den Unternehmen gleichzeitig hohe Umweltstrafkosten angedroht werden.
Unternehmen mit besonders negativen Auswirkungen auf die Umwelt müssen umfassende Umweltgenehmigungen einholen, die die BVT-Konformität ihrer technologischen Verfahren bescheinigen. Die russische BVT-Reform stützt sich auf die Erfahrungen einer ähnlichen Gesetzgebung in der Europäischen Union, wo die Einführung von BVT-Richtlinien für die verschiedenen Branchen und Bereiche bereits 1986 begann.
2015 begann ein russisch-deutsches Projekt mit dem Titel "Klimafreundliches Wirtschaften – Einführung von Besten Verfügbaren Techniken in der Russischen Föderation". Das Projekt im Auftrag des deutschen Umweltministeriums unterstützte die russischen Partner beim Übergang zu BVT. Offizieller Partner auf russischer Seite war ebenfalls das Umweltministerium.
Mit dem genannten Gesetz vom 26. März wurde auch das russische Umweltgesetz geändert. Automatische Kontrollsysteme zur Schadstoffüberwachung in großen umweltbelastenden Produktionsanlagen werden nun erst zwei Jahre später vorgeschrieben.
Der Aufschub gilt für die "schmutzigsten" Anlagen der Kategorie I, denen die umfassenden Umweltgenehmigungen vor dem 15. März erteilt wurden. Insgesamt gibt es vier Kategorien nach dem Ausmaß der negativen Umweltwirkungen. Die automatischen Kontrollsysteme sollten den staatlichen Aufsichtsbehörden aktuelle Informationen über die Luftverschmutzung durch die Unternehmen liefern.
Darüber hinaus wurde für die 300 größten Schadstoffemittenten in Russland die Frist zur Beantragung umfassender Umweltgenehmigungen von Ende 2022 auf Ende 2024 – verschoben.
Diese Maßnahmen stehen unter anderem im Zusammenhang mit Problemen bei der Belieferung mit den erforderlichen ausländischen Ausrüstungen und mit technologischen Beschränkungen bei der Modernisierung von Produktionsanlagen.
Im März erließ die Regierung auch eine Verordnung zur automatischen Verlängerung und vereinfachten Erteilung bestimmter Genehmigungen. Den Nutzern natürlicher Ressourcen wurde gestattet, diese gegebenenfalls für zwei weitere Jahre zu nutzen. Die Frist für die Beendigung von Verstößen wurde um ein Jahr verlängert. Die Gültigkeitsdauer von positiven Gutachten der staatlichen Umweltverträglichkeitsprüfung, die in diesem Jahr ausgelaufen wären, wurde bis Ende 2023 verlängert.
Empörungswelle wegen Schwächung von Schutzgebieten
Am 20. April wurde in dritter Lesung ein Gesetzespaket verabschiedet, das in der russischen Öffentlichkeit ein großes Echo gefunden hatte und infolgedessen während des Gesetzgebungsverfahrens erheblich abgeändert wurde. Die verabschiedeten Gesetzesänderungen betreffen das Städtebaugesetzbuch sowie die föderalen Gesetze über besonders geschützte Naturgebiete, den Schutz des Baikalsees und die Umweltverträglichkeitsprüfung.
In seiner ursprünglichen Fassung sah der Gesetzentwurf die Möglichkeit vor, in regionalen "besonders geschützten Naturgebieten" Flächen zum Bau von Infrastrukturanlagen heranzuziehen sowie solche Anlagen ohne Umweltverträglichkeitsprüfung in Naturschutzgebieten, Nationalparks, föderalen Naturreservaten und am Baikalsee zu errichten.
Der Entwurf löste eine starke Welle der öffentlichen Empörung und eine deutliche Reaktion russischer Umweltorganisationen aus. Zehntausende Menschen sandten kritische Stellungnahmen zu dem Gesetzentwurf an die zuständigen Duma-Ausschüsse. Bekannte Blogger riefen dazu auf, auf das Gesetz entsprechend zu reagieren. Auch der Umweltausschuss der Duma äußerte sich zu dem Gesetzentwurf kritisch.
Schließlich wurde der Gesetzentwurf geändert. Die Nutzung von Schutzgebiets-Flächen bleibt untersagt. Ausgenommen sind, wie bisher schon, nur Bauvorhaben für die Transsibirische Eisenbahn und ihre Abzweigung Baikal-Amur-Magistrale. Die Umweltverträglichkeitsprüfung bleibt für sämtliche Bauvorhaben in allen föderalen Schutzgebieten vorgeschrieben, mit Ausnahme von Infrastruktur-Großvorhaben wie Pipelines, Autobahnen und Eisenbahnen.
Der Entwurf wurde um eine neue Vorschrift ergänzt, wonach das Gesetz nicht auf den Bau von Wohn- und Indistrieanlagen in geschützten Wäldern und Naturgebieten angewendet werden darf. Die drohende Bebauung der Baikal-Region wurde somit verhindert. Ausgenommen ist die Erhöhung der Durchlasskapazität der Baikal-Amur-Magistrale und der Transsibirischen Eisenbahn.
Obwohl Experten die Möglichkeit von Großprojekten in föderalen Schutzgebieten ohne Umweltverträglichkeitsprüfung als negativen Effekt des Gesetzes ansehen, ist es in der nun verabschiedeten Form insgesamt eine weitaus geringere Bedrohung für das Schutzgebietssystem und den Baikalsee.
Zivilgesellschaft und aktive Öffentlichkeit
Schon in den letzten Jahren gab es immer wieder Versuche, die Gesetzgebung zu den "besonders geschützten Naturgebieten" aufzuweichen, um Flächen für wirtschaftliche Aktivitäten herauszulösen, was regelmäßig durch Umweltorganisationen und die aktive Öffentlichkeit verhindert wurde.
Zurzeit versuchen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die aktive Öffentlichkeit, die Naturschutzrisiken von Gesetzesinitiativen zu begrenzen, die die Folgen der Sanktionen abschwächen sollen. Dabei sind die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft in Russland derzeit beschränkt.
Umwelt-NGOs schließen sich im Kampf gegen solche Gesetzentwürfe zusammen. So haben 76 Umwelt- und Initiativgruppen ein gemeinsames Schreiben gegen einen Gesetzentwurf eingereicht, der gesellschaftlichen Verbänden das Recht nehmen soll, die sogenannte gesellschaftliche Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen.
Bürger richten sich außerdem mit Eingaben an die Duma. Es gibt eine aktive gesellschaftliche Kampagne gegen einen Gesetzentwurf, der Stalldung und Mist von der Geltung der Gesetze über Abfälle und über Agrarchemikalien sowie von der Kontrolle durch die Naturschutzbehörde ausnehmen soll, was zu einer verstärkten Belastung des Bodens durch frischen Stalldung und zu Umwelt- und Gesundheitsrisiken führen könnte.
Experten von Umwelt-NGOs beteiligen sich aktiv an der Überwachung von Gesetzentwürfen, die ökologische Gefahren bergen, und erörtern mögliche Reaktionen.
Nach dem Beginn der "Spezialoperation" nahmen Zahl und Intensität der Umweltproteste an der Basis zunächst ab und waren auch in den Medien weniger sichtbar. Doch nach etwa anderthalb Monaten wendete sich das Blatt. Die Proteste zu verschiedenen Aspekten des Schutzes der Umweltrechte nahmen wieder Fahrt auf und kehrten auf die Tagesordnung zurück. Diese Feststellung wird auch von verschiedenen Medien, beispielsweise dem Telegram-Kanal "Ekoprotesty Rossija", geteilt.
Den Beitrag in russischer Sprache finden Sie hier.
Wie diese Artikelserie entstand
Im August 2021 begannen unabhängige Journalist:innen und Expert:innen sich in einem Projekt der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) mit der Frage zu befassen, wie Russland das Pariser Klimaabkommen einhalten und zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise finden kann. Das Land ist weltweit einer der größten Emittenten von Treibhausgasen, seine Ökonomie ist eng mit der Nutzung fossiler Brennstoffe verbunden. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine löste zudem eine scharfe Debatte aus, welche Rolle das Land in der internationalen Klima-Gemeinschaft noch einnehmen kann.
Klimareporter° möchte zu dieser Debatte beitragen und veröffentlicht im Rahmen des DGO-Projekts entstandene Texte in einer Beitragsserie.
Aufgrund der Repressalien, denen Journalist:innen und Expert:innen seitens der russischen Regierung ausgesetzt sind, werden einige Texte unter Pseudonym veröffentlicht.
Klimareporter° arbeitet dabei neben der DGO mit weiteren Organisationen zusammen, darunter Stiftungen wie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Aufgrund der schwierigen Situation für demokratisch orientierte Organisationen in Russland können nicht alle Unterstützer:innen öffentlich genannt werden. Beteiligt sind auch weitere Medien wie DW Russland und das Journalistennetzwerk N-Ost.