Reinhard Loske im Gespräch.
Reinhard Loske. (Bild: Julia Zimmermann)

Klimareporter°: Herr Loske, zu den vielen Krisen, von Corona über Ukraine bis Klima, ist jetzt auch noch die der Wirtschaft hinzugekommen. Die Ökonomie in Deutschland schrumpft, wir befinden uns in einer Rezession. Hat das, wenigstens mit Blick auf die ökologischen Grenzen, auch eine positive Seite?

Reinhard Loske: Die "technische" Rezession, von der aktuell die Rede ist, hat keinen relevanten Einfluss auf die große ökologische Krise, in die wir als Menschheit immer tiefer hineinschlittern.

Wir haben das Bruttoinlandsprodukt, das BIP, also die Summe der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen, seit den 1950er Jahren zum zentralen Wohlstandsindikator gemacht, obwohl es ursprünglich nur als statistische Messgröße gedacht war.

Beschränken wir unseren Wohlstandsbegriff nur auf diese Statistik, so lässt sich seit einem Dreivierteljahrhundert eine regelrechte Wohlstandsexplosion feststellen: 1950 lag das deutsche BIP bei rund 50 Milliarden Euro, im Einheitsjahr 1990 bei 1.300 Milliarden und im vergangenen Jahr 2022 bei 3.870 Milliarden. Das entspricht fast dem Faktor 80.

Das ist doch, ganz klar, auch positiv.

 

Kann man vielleicht so sehen, wenn man nur mit einem Auge schaut. Denn im gleichen Zeitraum sind der Energieverbrauch, der Rohstoffverbrauch, der Flächenverbrauch, der Wasserverbrauch, das Abfallaufkommen und die Intensität der Landnutzung ebenfalls explodiert – mit verheerenden Folgen für das Klima, die Biodiversität und die planetare Gesundheit.

Über all diese potenziell existenzbedrohenden Krisen gibt uns das BIP keine Auskunft, übrigens auch nicht über soziale Aspekte wie den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Bildungschancen, Gesundheit oder Geschlechtergerechtigkeit.

Die sklavische Fixierung auf diese Messgröße macht uns zukunftsblind oder zumindest zukunftsvergessen.

Immerhin plädiert sogar die EU-Kommission nun für eine Ergänzung der traditionellen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung um sozial-ökologische Indikatoren.

Die EU ist im Konzeptionellen immer recht gut, das gilt auch für die Nachhaltigkeit und deren Messung. In der Umsetzung sieht es dann aber leider oft ganz anders aus. Ein Beispiel ist die unsägliche europäische Agrarpolitik, die eine der Hauptursachen für den Rückgang der Biodiversität ist.

Was die ganzheitliche Wohlstandsmessung betrifft, so gibt es inzwischen eine ganze Reihe interessanter Ansätze, vom "Happy Planet Index" bis zum "Genuine Progress Indicator".

Der australische Forscher und Politikberater Ronald Colman hat mit diesen Ansätzen in Bhutan, der kanadischen Provinz Nova Scotia und Neuseeland gearbeitet und inspirierende Erfahrungen gemacht. Sein neues Buch "Was wirklich zählt", zu dem ich das Vorwort beisteuern durfte, erscheint in diesen Tagen auch in deutscher Sprache. Hier können sich unsere Politiker Anregungen holen.

Sie meinen Bundeskanzler Olaf Scholz, zum Beispiel? Er hat gesagt: "Ich bekenne mich zum Wachstum. Es ist unverzichtbar." Sie sprechen in Ihrem neuen Buch dagegen von einer "Wachstums-Illusion". Ist der SPD-Kanzler nicht auf der Höhe der Zeit?

Olaf Scholz schließt auch hier nahtlos an seine Vorgängerin an. In der Regierungserklärung der CDU-Kanzlerin Angela Merkel von 2009 hieß es: "Ohne Wachstum ist alles nichts." Und nun erklärt unser aktueller Kanzler mit fester Stimme, Wachstum sei unverzichtbar. Das klingt doch sehr nach "Wachstum als Religion".

Da hörte sich das, was Ludwig Erhard in den 1970er Jahren kurz vor seinem Tod zum Thema sagte, doch wesentlich nüchterner an: "Es ist nicht wahr, dass die soziale Marktwirtschaft wesentlich auf die Maximierung des Sozialprodukts oder sonst eines Einzelzieles gerichtet ist. Sie ist einzig auf das Ziel gerichtet, ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen, damit jeder seine eigenen Ziele mit Aussicht auf Erfolg verfolgen kann."

Vielleicht sollte Scholz sich auch mal fragen, warum Willy Brandt seine Politik unter die Überschrift "Mehr Demokratie wagen" gestellt hat. Da wird eine Zweck-Mittel-Relation erkennbar, die heute oft fehlt.

Die Wachstumsdebatte ist fast so alt wie die Umweltdiskussion. Die Studie des Club of Rome zu den "Grenzen des Wachstums" ist über 50 Jahre alt. Trotzdem streben alle, in Nord und Süd, nach Wachstum. Offenbar gibt es kein besseres Modell?

Reinhard Loske

Der Volkswirt und Politikwissenschaftler engagiert sich in der alternativen Wirtschaftsforschung und ist Vorstandsmitglied der Right Livelihood Foundation. Zuvor war er Präsident der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Rheinland-Pfalz, Professor für Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/​Herdecke, Umweltsenator in Bremen und Abgeordneter des Bundestages. Zu Wirtschaftswachstum und neuer Ökonomie schrieb er mehrere Bücher, zuletzt "Ökonomie(n) mit Zukunft: Jenseits der Wachstumsillusion".

Na ja, es gibt schon weltweite Versuche eines anderen Wirtschaftens, in denen es um Ökonomien des Teilens, des Sorgens, der Kooperation, der Fairness, der Gemeinschaftsgüter und des "rechten Maßes" geht. Als Jurymitglied des "Alternativen Nobelpreises" sehe ich, welche unglaubliche Fülle und Vielfalt es mittlerweile auf dem Feld des nicht wachstumsorientierten Wirtschaftens gibt.

Aber tatsächlich ist das traditionelle Entwicklungsmodell sehr attraktiv, weshalb sich ja auch viele in Umweltverbänden und Nachhaltigkeitsforschung recht brav auf das Lob grünen Wachstums, grüner Technologien und grüner Märkte beschränken. Man kann es ihnen nicht vorwerfen, aber es wird am Ende nicht reichen.

Ich sehe viele Indizien dafür, dass wir eher auf eine Dualökonomie zulaufen, in der Kooperation und Wettbewerb, Eigenarbeit und Erwerbsarbeit, Selbstversorgung und Fremdversorgung, Schrumpfung und Wachstum eine wichtige Rolle spielen.

Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, wird auf Dauer so nicht weiter bestehen können. Das hat mein akademischer Lehrer Elmar Altvater schon 2005 glasklar beschrieben.

Im Bundestag hat es vor gut zehn Jahren eine Enquete-Kommission zur Wachstumsfrage gegeben, angeregt auch von Ihnen als damailger Bremer Umweltsenator. Folgen hatte das praktisch keine ...

Die Kommission mit dem Titel "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" hat durchaus fleißig gearbeitet, die Debatte systematisiert und ergänzende Indikatoren der Wohlstandsmessung vorgeschlagen.

Aber richtig, an der Regierungspolitik und ihrer einseitigen Wachstumsfixierung hat sich, siehe Merkel und Scholz, praktisch nichts geändert. Mein Tipp: Es lohnt sich noch immer, den Abschlussbericht von 2013 zu lesen.

Was passiert, wenn wir – Staat, Wirtschaft, Bürgerinnen und Bürger – das nicht beherzigen und so weitermachen wie bisher?

Schauen Sie sich nur ein Ereignis wie die Flutkatastrophe an Ahr und Erft im Juli 2021 an. Das sollte eigentlich Warnsignal genug sein. Über 130 Menschen sind dort gestorben. Die Schäden lagen bei 33 Milliarden Euro.

Der Wiederaufbau, der eigentlich entlang von Kriterien wie Resilienz und Nachhaltigkeit laufen sollte, stellt sich als äußerst zäh und mühsam heraus.

Wenn Fluten, aber auch Dürren und andere Extremwetterereignisse zum "neuen Normal" werden, kommt uns die gesellschaftliche Zuversicht abhanden. Zuversicht ist aber jetzt schon eine knappe Ressource. Ihr Fehlen ist Wasser auf die Mühlen von Populisten. Das ist äußerst gefährlich.

Deshalb muss der Staat beim Angehen gegen die Klimakrise nun auch endlich Entschlossenheit, Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit zeigen. Sonst wird's eng, sehr eng.

Aber ist denn das Wachstum wirklich die Ursache allen Übels? Es gibt doch auch ein grünes Wachstum, das das Klima schont. Je mehr Solar- und Windkraftanlagen, desto besser.

Natürlich gibt es in der Energie- und der Mobilitätswende, in der Kreislaufwirtschaft und der nachhaltigen Landnutzung, in der Ressourceneinsparung und der Naturentfaltung enorme Entwicklungspotenziale und Chancen.

Ich nenne das aber ungern grünes Wachstum, weil es ja immer zugleich auch um Schrumpfung in anderen Bereichen geht. Entscheidend ist, dass wir vom Wachstumsmantra wegkommen und uns konsequent an den Aufgaben orientieren, die jetzt anstehen.

Der Ökologiebewegung und der alternativen Wirtschaftsforschung rate ich deshalb, sich momentan nicht in ideologischen Kämpfen zu verbeißen, denn egal, ob man für Green Growth, Post-Growth, Degrowth oder A-Growth streitet, man muss Vorschläge unterbreiten, die auf Augenhöhe mit den ökologischen Herausforderungen liegen.

Trotzdem meinen Sie offenbar: Die Konzepte für ein grünes Wachstum, wie sie von Joe Biden über Ursula von der Leyen bis Robert Habeck vertreten werden, sind Unsinn.

Nein, sie sind kein Unsinn, aber sie sind fundamental unzureichend. Die Frage, wie wir in Zukunft in, mit und von der Natur leben wollen, kann uns kein Windrad, keine Wärmepumpe, keine Wasserstofffabrik und kein Elektroauto abnehmen.

Es sei nötig, "die Ökonomie wieder in die Natur einzubetten", schreiben Sie. Das klingt vernünftig, es dürfte wohl auch jeder bejahen, weil Menschen in einer zerstörten Natur nicht leben können. Aber was heißt das konkret?

Grünes Geld
Grünes Wachstum ist nicht falsch, den aktuellen Strategien fehlt aber die Einbettung in die Gesellschaft und die Natur, sagt Reinhard Loske. (Bild: Nattanan Kanchanaprat/​Pixabay)

Eigentlich geht es um eine doppelte Wiedereinbettung, die Einbettung des Wirtschaftens in die Gesellschaft und zugleich die Wiedereinbettung von Gesellschaft und Wirtschaft in die Natur.

Praktisch heißt das, dass wir in die planetaren Grenzen zurückkehren müssen, die von der Wissenschaft präzise beschrieben worden sind. Vor allem müssen wir lernen, systematisch integral zu denken, etwa bei Klimaschutz, Landnutzungs- und Biodiversitätsfragen, sie hängen zusammen.

Der Moorschutz und die Renaturierung von Feuchtgebieten sind da wunderbare Beispiele. Beide sind gut für den Wasserhaushalt, die Landschaftskühlung, die CO2-Einbindung und die Artenvielfalt.

Was sind weitere Stellschrauben, um in diesem Sinn umsteuern zu können?

Ein Punkt, der mir sehr wichtig ist, ist die Trias aus "anders, besser, weniger". Nehmen wir die Energiefrage: Da geht es zum einen um das "Anders", also weg von Kohle, Öl und Gas hin zu Sonne, Wind, Wasser, Erdwärme, Biomasse.

Es geht aber auch um das "Besser", also die systematische Energieeinsparung durch intelligente Technik, nehmen wir die Kraft-Wärme-Kopplung.

Und nicht zuletzt das "Weniger", den Verzicht auf Überflüssiges, etwa Wegwerfprodukte, übermäßige Beleuchtung oder übermäßiges Rasenmähen, wie wir es dieser Tage wieder überall sehen. "Weg damit, brauchen wir nicht", das wäre in vielerlei Hinsicht eine gute Devise.

Wer kann denn Treiber des Umbaus sein? Der Staat, die Bürger, die Wirtschaft?

Vor allem müssen wir wegkommen von dem angeblichen Staat-Markt-Gegensatz. Gute Regulierung schafft eben auch Märkte für das Bessere. Und ein gesellschaftlich eingebettetes Unternehmertum kann viel leisten.

Zugleich müssen wir ein neues Staatsverständnis entwickeln: weg vom korporativ-lobbyistischen Staat, der machtvollen und gut organisierten Gegenwartsinteressen dient und zukunftsvergessen agiert, hin zum kooperativ-zielorientierten Staat, in dessen Zentrum Verantwortungszuweisung, Aufgabenorientierung und Zielerreichungskontrolle stehen.

Wie muss der Rahmen aussehen, den der Staat vorgeben soll?

Auch wenn es ein wenig phrasenhaft klingt, so finde ich das Nachhaltigkeitsmotto der Vereinten Nationen eigentlich gar nicht schlecht: "Leave no one behind" – niemanden zurücklassen im Prozess der Transformation.

Das ist neben der ordnungsrechtlichen, steuerrechtlichen und ausgabenbezogenen Rolle des Staates vielleicht seine zentrale Aufgabe. Dabei geht es nicht um den nanny state, der uns gegen alles potenzielle Übel schützt, wohl aber den Staat, der Fairness und Gerechtigkeit gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern garantiert.

Sie sagen auch, die Dominanz der Finanzmärkte müsse zurückgedrängt werden. Wie kann das funktionieren?

Das Entscheidende ist, primär renditeorientierte Shareholder-Banken zu primär gemeinwohlorientierten Stakeholder-Banken zu machen. Sparkassen und Volksbanken etwa könnten eine viel positivere Rolle spielen, als sie es faktisch tun.

Wichtig auch: Schattenbanken und all das, was sich jetzt um den Hype der künstlichen Intelligenz rankt, klar regulieren.

Und noch eine utopische Forderung aus Ihrem Buch: "Die Schere zwischen Arm und Reich muss geschlossen werden, damit alle bei der Transformation mitmachen können." Wie begründen Sie das? Und hat es eine Chance auf Realisierung?

Der Grund ist: Überkonsum und Armut sind im Weltmaßstab die beiden zentralen Treiber von Umweltzerstörung.

Globale Gerechtigkeit bleibt deshalb ein Megathema. Der Überkonsum vieler Reicher ist eklatant, ihr Wohn-, Konsum- und Mobilitätsverhalten oft fragwürdig.

Dass sie hier und da für gute Zwecke spenden und stiften, ist löblich und begrüßenswert. Als Bremer Senator habe ich die Kultur des Mäzenatentums zum Wohle der Stadt immer sehr zu schätzen gewusst. Aber ein Ersatz für die gerechte Besteuerung sehr hoher Kapitaleinkünfte, Vermögen und Erbschaften kann das natürlich nicht sein.

 

Letzte Frage, Herr Loske. Wie könnte das Leben in der "neuen Ökonomie" aussehen?

Ich weiß nicht, ob die ökologische Transformation gelingen wird. Ich hoffe es.

Eine gute Devise für ein bewusstes Leben in Zeiten der Klimakrise könnte in Anlehnung an Karl Marx so lauten: Morgens Handwerker oder Bauer, mittags Aktivistin oder Forscherin, abends Philosoph oder kritische Kritikerin, ohne je Bauer, Handwerker, Aktivistin, Forscherin, Philosoph oder kritische Kritikerin zu werden.

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