Björn Höcke spricht auf einer Veranstaltungsbühne, hinter ihm der Slogan:
Dass der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke seine Partei immer weiter nach rechts drängt, hielt FDP und CDU im Landtag nicht von ihrer Machttaktik ab. (Foto: Panthera Leo 1359531/​Wikimedia Commons)

Thüringen – ein Land großer Persönlichkeiten. Thüringen – das Land der Dichter und Denker. Johann Sebastian Bach, Lucas Cranach, Johann Wolfgang Goethe, Johann Gottfried Herder, Martin Luther, Friedrich Schiller: Ihre künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeiten sind überragend und haben weltweit tiefe Spuren hinterlassen. In dieser Tradition von Aufklärung und Kultur hat es das Land nicht verdient, zum Opfer einer so schmierigen Provinzposse zu werden.

Doch es gibt auch eine andere Seite von Thüringen. So die drei aus Jena stammenden NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, die für zahlreiche rassistische Morde verantwortlich sind. Und vor 90 Jahren kam es im Thüringer Landtag erstmals zur Machtübernahme der NSDAP, gleichsam als Testlauf zur nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland.

Und nun das: Im Landtag von Thüringen lässt sich der mit gerade mal fünf Prozent und 74 Stimmen ins Parlament gekommene FDP-Mann Thomas Kemmerich, offenkundig abgesprochen mit dem Parteivorsitzenden Christian Lindner, mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen.

Es sollte ein politischer Coup gegen Rot-Rot-Grün sein. Die FDP und auch die CDU kamen sich besonders clever vor, tatsächlich aber ließen sie sich von der AfD aufs Glatteis führen. Die nachgeschobene schlichte Begründung der Brandstifter hieß: Was können wir schon dafür, dass AfD-Leute für unseren ehrbaren Kandidaten stimmen, es ist schließlich eine geheime Wahl.

Aber es gibt auch die Gesetze der Logik, die für die "bürgerlichen Parteien" genauso gelten. Schon vor der Abstimmung war klar, dass die Wahl des "liberalen" Kandidaten nur möglich sein würde, wenn die AfD Kemmerich wählt und nicht ihren eigenen Kandidaten.

Geschichtsvergessenes, widerliches Taktieren

Wie tief ist die FDP gesunken? Es gibt keine Ausrede für das widerliche Verhalten des "bürgerlichen Lagers". Das Demokratie-Debakel mit der Unterstützung durch die AfD wurde bewusst in Kauf genommen.

Dafür kann es keine Entschuldigung geben, denn das Verhalten war ebenso naiv wie geschichtsvergessen und machtgeil. Tastsächlich war das Interesse, an die Macht zu kommen, größer als jede politische Vernunft.

Vordergründig getarnt als ideologische Abgrenzung gegen Bodo Ramelow von der Linken, der zwar nach Auffassung der Bevölkerungsmehrheit wieder Ministerpräsident werden sollte, was FDP und CDU aber mit aller Macht verhindern wollten.

Also nicht etwa gegen AfD-Fraktionschef Björn Höcke, mit dem sich das "bürgerliche Lager" bei der jetzigen Abstimmung faktisch verbunden hat. CDU und FDP haben bei der Wahl im Landtag auf die Vergesslichkeit der Menschen spekuliert, auf eine nur kurzzeitige Aufregung, die schnell wieder vergehen würde. Was für ein Irrtum.

Michael Müller

ist Bundes­vorsitzender der Natur­freunde Deutsch­lands. Der umwelt­politische SPD-Vordenker war Bundes­tags­abgeordneter und von 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staats­sekretär im Bundes­umwelt­ministerium. Er ist Heraus­geber­rats­mitglied von Klimareporter°.

Auch die beiden Parteivorsitzenden von FDP und CDU, Christian Lindner und Annegret Kramp-Karrenbauer, haben dem Spiel mit dem Feuer tatenlos zugesehen. Überforderte Landespolitiker haben den Landtag angezündet, zum Schaden der Demokratie, Thüringens und des ganzen Landes, und die Parteivorsitzenden haben zugesehen, wie sie die Streichhölzer in die Hand genommen haben.

Kemmerich erklärte zwar gestern, einen Tag nach seiner Wahl, er wolle zurücktreten, aber da war der Schaden längst da. Und alles weist darauf hin, dass er eher auf Druck von außen als aus eigener Überzeugung den Rückzug angetreten hat.

In Erfurt wurde ein Erdbeben ausgelöst, das nicht nur Thüringen, sondern unser ganzes Land erschüttert hat. Nicht nur die Landesparteien von CDU und FDP haben versagt, sondern auch die Bundesvorstände, namentlich die beiden Vorsitzenden, die immer wieder eine Zusammenarbeit oder eine Unterstützung durch die AfD ausgeschlossen haben, um sie dann sehenden Auges zuzulassen.

Ein FDP-Ministerpräsident Kemmerich, gewählt mit einer Finte des AfD-Rechtsaußen Björn Höcke, des fremdenfeindlichen und antisemitischen Landesvorsitzenden und Anführers des sogenannten Flügels, den man laut Verwaltungsgericht Meinigen als Faschisten bezeichnen darf, weil dieses "Werturteil nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage" beruht.

Das alles war bekannt und macht die Vorkommnisse in Thüringen noch schlimmer. Was für ein mieses Verhalten und was für ein Glaubwürdigkeitsverlust der "bürgerlichen Parteien". 

Geschichte der Ost-CDU nicht aufgearbeitet

Die Brandmauer eingerissen haben Kemmerich und die FDP, ihr Helfer war die CDU um Mike Mohring. Beide sind völlig überfordert. Das bleibt, auch wenn die demokratische Öffentlichkeit noch funktioniert und anschließend das totale Debakel verhindert hat.

Tatsächlich sind FDP und CDU in Thüringen dem Druck nur widerwillig gefolgt. Und das Machtspiel geht weiter. Jetzt soll Bodo Ramelow auf jeden Fall verhindert werden, um eine Begründung nachzuschieben. Mal sehen, was da noch hochkommt.

Nicht wenige aus der CDU haben das Spiel nicht nur mitgemacht, sie wollen tatsächlich eine Kooperation mit der AfD, weil sie einen Vertreter der Linkspartei – und zwar nicht irgendeinen, sondern den amtierenden Ministerpräsidenten, der als beliebtester Politiker des Landes gilt – auf jeden Fall ablehnen.

Hatte nicht die CDU 1990 die damalige Blockpartei der Ost-CDU ohne geschichtliche Aufarbeitung übernommen? Ist die eigene Vergangenheit der Grund für das Verhalten? Anders ist schwer zu erklären, dass nun mit nachgeschobenen Angeboten an SPD und Grüne die Wahl von Ramelow verhindert werden soll.

Politiksimulation stärkt den rechten Rand

Das Debakel in Erfurt wirft einen langen Schatten auf den Zustand der Parteien in Deutschland, aber auch auf die Politik insgesamt. Hier tun sich Parallelen auf zum Umgang mit den großen Herausforderungen unserer Zeit, dem politischen Versagen auch beim Klimaschutz. Im Zweifelsfall ist der Machterhalt wichtiger als das politisch Notwendige.

Keine Frage: Auch beim Klimaschutz wissen alle Bescheid, was auf dem Spiel steht. Vor mehr als 30 Jahren wurde in unserem Land das Klima-Manifest der Wissenschaft mit der Warnung vor dem vom Menschen gemachten Klimawandel veröffentlicht.

Damals wurde das erste durchgerechnete Klimaschutzszenario zur Reduktion der Treibhausgase vorgelegt. Wäre ihm gefolgt worden und hätte man diese Klimaschutzpolitik dann fortgesetzt, wäre bis heute eine Verminderung um fast 70 Prozent erreicht worden.

Es war damals ein programmatischer Ansatz und nicht die Aneinanderreihung von Einzelforderungen, die wie in einer Art politischer Tarifverhandlungen durchgesetzt werden. Doch die Politik hat sich immer mehr verflüssigt. Es fehlt an Klarheit und der Bereitschaft, ein Zukunftsprojekt überzeugend durchzusetzen.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrates in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Dafür kann es heute keine Entschuldigung geben. Politik heißt, Zusammenhänge zu verstehen, unter die Oberfläche zu schauen, mutig zu handeln und Perspektiven zu entwickeln. Alles andere bleibt politisches Versagen. Je mehr die Politik zur Machttaktik verkommt, desto stärker werden auch rechtsradikale Parteien.

Wer die AfD, die auch den Klimawandel leugnet, kleinhalten will, der muss Politik machen, Politik als sozial-ökologisches Projekt der sozialen Integration, ökologischen Verträglichkeit und zur Stärkung der Demokratie. Wehret den Anfängen!

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