Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, chinesische Elektroautos von BYD sind heute international konkurrenzfähig. Solarmodule aus China drohen der hiesigen Solarindustrie den Garaus zu machen. Sollen wir diese Entwicklung hinnehmen oder brauchen Deutschland und Europa eine eigene industrielle Basis für Klimaschutz und Energiewende?

Michael Müller: Vor einigen Jahren habe ich eine Produktionsstätte von BYD in China besucht und auch mit Vertretern der Firmenleitung gesprochen. Sie waren einfach clever und sind den fossilen Automärkten nicht nachholend hintergelaufen, sondern haben mithilfe ihrer Batterieunternehmen eine eigene Autoindustrie aufgebaut und dabei die Verbrenner- und Dieselphase übersprungen.

Zugleich wurde in Deutschland die Batteriefertigung abgebaut.

Auch bei der Förderung der Solarenergie fehlt hierzulande eine industriepolitische Strategie, die nicht nur auf die Technologie ausgerichtet ist, sondern auch auf die Infrastruktur und eine langfristige Förderung.

In der Globalisierung sind die Marktbedingungen anders und dem muss Rechnung getragen werden, um die Wettbewerbsbedingungen fair auszugestalten.

Generell brauchen wir eine industriepolitische Strategie und steuerliche Regeln, um Ungleichheiten zu verhindern, die innovative Entwicklungen blockieren. Ein EU-Grenzausgleich sollte dabei ökologische wie soziale Ungleichheiten regeln.

In den "Konjunkturzyklen" beschreibt Joseph Schumpeter in Anknüpfung an Nikolai Kondratieff, warum die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes entscheidend davon abhängt, ob frühzeitig eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Infrastruktur für Zukunftsmärkte geschaffen wird.

Bei der digitalen Revolution hat Deutschland das verpatzt, obwohl die erste Computertechnologie von Konrad Zuse in Berlin entwickelt worden war.

Ein weiteres typisches Beispiel für diese Blindheit war übrigens ein Antragsschreiben von Zuse zur Prüfung einer Innovation bei der Windkraft-Technologie in den 1990er Jahren an den damaligen Forschungsminister Jürgen Rüttgers, das dieser mit der Bemerkung zurückwies, es gebe zahlreiche solcher Gesuche und man könne die nicht alle bearbeiten.

Die Unionsparteien wollen in Deutschland wieder auf Atomkraft setzen. Doch bei den wenigen AKW-Neubauprojekten in Europa explodieren die Preise. Auch das Atommüllproblem ist ungelöst, und als Backup für Solar- und Windenergie ist Atomkraft ungeeignet. Befürchten Sie ernsthaft eine Renaissance der Kernenergie hierzulande?

Es ist purer Unsinn und von Unwissenheit oder Dreistigkeit geprägt, was die Befürworter eines Neueinstiegs erzählen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass das Kapitel in Deutschland abgeschlossen ist und sie den Ausstieg akzeptieren müssen, wenn es nicht zu neuen und überflüssigen Auseinandersetzungen kommen soll.

Statt die Chancen einer solaren und effizienten Energieversorgung zu nutzen, wollen sie nur zurück in die fossile und atomare Vergangenheit.

Die zivile Nutzung der Atomenergie begann 1953 mit dem Versprechen "Atoms for Peace", um von der militärischen Zerstörungskraft der Atombombe abzulenken. Beim Start in Deutschland war die Industrie skeptisch, doch der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer und der Forschungs- und später Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß wollten die Atombombe – was durch das Manifest der "Göttinger Achtzehn" gestoppt wurde.

Seitdem zieht sich die schmale Linie zwischen militärischer und ziviler Nutzung durch die Geschichte der Atomkraft. Wirtschaftlich hat sich Atomenergie nie gerechnet und konnte nur durch massive Förderung und Privilegien seine Rolle in der deutschen Stromwirtschaft einnehmen. Zu Recht wurde von einer "Sonderwirtschaftszone" gesprochen.

Derzeit gibt es 422 Atomkraftwerke in der Welt mit einem Durchschnittsalter von knapp 32 Jahren. Rund 200 sollen bis 2040 abgeschaltet werden, dem stehen 53 geplante Neubauten gegenüber.

Doch bei den AKW-Neubauten der neuen Generation EPR verwelken die Blütenträume. Der erste 2018 in China fertiggestellte, Taishan 1, steht nach heftigen Vibrationen still. Ein Jahr später wurde Taishan 2 in Betrieb genommen, mit Kosten doppelt so hoch wie geplant.

In Europa wurde 2022 der erste EPR in Finnland mit einer elfjährigen Verspätung und für elf Milliarden Euro statt der angesetzten 3,2 Milliarden in Betrieb genommen.

Im französischen Flamanville ist der geplante EPR nach 17 Jahren Bauzeit immer noch nicht am Netz. Die Kosten stiegen vom 3,1 auf mindestens 19 Milliarden Euro.

Der britische Reaktor Hinkley Point C wird frühestens 2027 in Betrieb gehen – mit geschätzten Kosten von mindestens 27 Milliarden Euro.

Meist sind es militärische Gründe, an dieser teuren und unwirtschaftlichen Energietechnik festzuhalten oder in sie einsteigen zu wollen, wie in der Türkei, in Belarus, Ägypten oder den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Seit der Corona-Pandemie nehmen die Menschen die Klimakrise ernster. Das hat zu Verhaltensänderungen geführt. Die Menschen sind mehrheitlich bereit für einen Wandel im Verkehr, weist die jetzt veröffentlichte Mobicor-Studie zur Mobilität in Deutschland aus. Ist das Auto doch nicht mehr das liebste Kind der Deutschen?

Die Studie selbst kann ich nicht beurteilen. Meinungserhebungen sind allerdings auch nicht immer "wertfrei".

Die Verkehrssituation selbst sehe ich als sehr widersprüchlich. Zum einen gibt es einen Trend weg vom Auto, der sich zum Beispiel am Zuspruch für das Deutschlandticket, an der Ausweitung des Carsharings oder an der Zunahme des Radverkehrs zeigt. Was für ein positives Signal, dass der Fußball-Bundesligist SC Freiburg für das Fahrrad Werbung macht!

Auf der anderen Seite finde ich den starken Trend hin zum großen SUV erschreckend. Der SUV-Anteil steigt, nicht zuletzt im Zuge der E‑Mobilität. Die großen "Vorstadtpanzer" bestimmen immer häufiger das Bild. Aber es ist einfach nicht ökologisch, wenn ich mit einem riesigen Elektro-SUV zum Biomarkt fahre.

Insgesamt teile ich die Einschätzung der Studie, dass sich die Ausrichtung auf das Auto relativiert. Das ist allerdings davon abhängig, ob die Infrastruktur für die Alternativen verbessert und ausgebaut und sozial verträglich gemacht wird.

Das gilt nicht nur für Fahrräder und den Ausbau des ÖPNV, sondern auch für kreative und zeitlich, räumlich und preislich verträgliche Angebote im ländlichen Bereich.

Trotz eigener Kohlerichtlinie finanziert die Deutsche Bank weiter Kohleprojekte in Ländern wie Südafrika. Banken machen weltweit immer noch große Summen für den klimaschädlichen Sektor locker, hat eine NGO-Analyse ergeben. Sind wir gegen die Finanziers der fossilen Vergangenheit machtlos?

Die Geschäfte des fossilen Sektors und der sie fördernden Unternehmen – vor allem Finanz- und Investmentgiganten wie etwa Blackrock – müssen permanent transparent gemacht werden.

Natürlich sollten auch gesetzliche Maßnahmen geprüft werden, aber es braucht die Kraft der Zivilgesellschaft, um diese Gier zu stoppen.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Was mich derzeit sehr irritiert, ärgert und was ich fast täglich merke, ist, dass es kaum noch einen Sinn für Gemeinsamkeit gibt.

Das fiel mir zuletzt wieder auf, als die unsinnige Debatte um "Kriegstüchtigkeit" und die wahnwitzige Erhöhung des Militäretats geführt wurde.

Wir leben in einer zusammengewachsenen Welt und haben es seit der "Great Acceleration" immer mehr mit Herausforderungen zu tun, die nur gemeinsam gelöst werden können.

Doch es dominiert eine nationale, oftmals auch nationalistische Abgrenzung zu globaler Gemeinsamkeit. Was mir immer klarer wird: Wir müssen den Konformismus, der heute vorherrscht, benennen, in seinen Konsequenzen deutlich machen und möglichst schnell beenden.

Fragen: Jörg Staude

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