Auf Fahrrädern und Treckern demonstrieren Menschen gegen die Einlagerung von Atommüll im Schacht Konrad.
Die Anti-Atom-Bewegung war erfolgreich, sie hatte einen langen Atem und blieb weitgehend hierarchiefrei und unabhängig. (Foto: Michaela Mügge/​AG Schacht Konrad)

Das "Atomzeitalter" in Deutschland geht zu Ende. Übermorgen, am 15. April, werden die letzten drei von ehemals 30 Strom produzierenden Leistungsreaktoren abgeschaltet.

1952 kündigte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) erstmals an, hierzulande ein Atomkraftwerk bauen zu wollen. Seither sind mehr als 70 Jahre vergangen.

Dazwischen eine politische Achterbahnfahrt: gigantische Ausbau-Pläne, die Schlachten um Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben, der Tschernobyl-Schock, der rot-grüne Ausstiegskonsens, die Laufzeitverlängerung unter Schwarz-Gelb und dann der endgültige Ausstiegsbeschluss nach dem Super-GAU von Fukushima.

Es ist ein denkwürdiger Moment. Die Anti-AKW-Bewegung, einst eine kleine Minderheit in der Bevölkerung, hat sich durchgesetzt.

Die Euphorie war groß, als deutsche Politiker den Einstieg in die Atomkraft planten. Adenauer installierte 1955 in seinem Kabinett ein Atomministerium, um den Rückstand bei der Entwicklung der Kernspaltung "für friedliche Zwecke" gegenüber Ländern wie den USA oder Großbritannien aufzuholen. Sein erster Atomminister Franz-Josef-Strauß (CSU) zeigte sich überzeugt, dass die Atomenergie-Nutzung "denselben Einschnitt in der Menschheitsgeschichte bedeutet wie die Erfindung des Feuers für die primitiven Menschen".

Und die SPD-Opposition stimmte ein. So hieß es 1959 im Godesberger Programm der Partei: Es sei "die Hoffnung unserer Zeit, dass der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann".

Der deutsche Philosoph Ernst Bloch erträumte gar ein nukleares Paradies: Die Atomkraft mache "aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling", schrieb er.

Das Image der Atomkraft stürzte später ab, vor allem seit dem ersten Großprotest am geplanten Standort Wyhl in Baden 1975 – Motto: "Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv." Doch als in den 1960er Jahren die ersten AKW-Kuppeln in deutschen Regionen aufgetaucht waren, störte das nur wenige. Der zivilen Kernspaltung schien die Zukunft zu gehören.

Plan für 50 Atomreaktoren

Den ersten Atomstrom produzierte 1962 der kleine Versuchsreaktor in Kahl am Main mit 15 Megawatt Leistung, im nordwestlichsten Zipfel Bayerns nahe der hessischen Grenze gelegen. Doch schon bald wurden die Anlagen größer.

Das AKW Gundremmingen A in Bayerisch-Schwaben (1967) brachte es schon auf 250 Megawatt, Würgassen in Ostwestfalen (1975) dann auf 670 Megawatt und die beiden Blöcke im südhessischen Biblis (1975/​1977) auf 1.225 respektive 1.300 Megawatt.

Derart große Kraftwerke hatte es in Deutschland vorher nicht gegeben. Das Hochspannungs-Stromnetz wurde zunehmend auf die Atomkraft ausgerichtet. Und der Einbau von Nachtspeicheröfen in Wohnungen und Häusern wurde forciert, um den rund um die Uhr produzierten AKW-Strom auch Zeiten mit niedrigem Bedarf abzunehmen.

Die DDR-Führung setzte ebenfalls aufs Atom. Sie stieg 1966 mit einem kleinen Reaktor im brandenburgischen Rheinsberg (70 Megawatt) ein, ab 1974 folgen insgesamt fünf AKW-Blöcke mit je 440 Megawatt nahe Greifswald an der Ostsee. Alle aus sowjetischer Produktion.

Die Bundesregierung förderte den AKW-Ausbau mit mehreren Atomprogrammen. Erstaunlich aus späterer Perspektive: Sie musste die neue Energieform den Stromkonzernen zu Beginn förmlich aufzwingen, wie der Technikhistoriker Joachim Radkau in seinem Buch "Aufstieg und Krise der Atomwirtschaft" dargestellt hat. Diese meinten, mit ihren fossilen Kraftwerken bereits gut aufgestellt zu sein und Atomkraft nicht zu benötigen.

Unter anderem RWE sperrte sich. Doch spätestens 1973, inmitten der ersten Ölkrise, als fünf AKW am Netz waren, erschien der forcierte Nuklear-Ausbau als das richtige Rezept. "Weg vom Öl", lautete das Ziel. Die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt beschloss im vierten Atomprogramm, bundesweit 40 bis 50 Reaktoren bauen zu lassen.

Wobei Fachleute noch viel radikalere Vorstellungen hegten: Das Kernforschungszentrum Jülich benannte 1975 in einer Studie Standorte für bis zu 598 AKW, davon 184 für Plutonium-Brüter.

Die Stimmung kippt

Doch auch der offizielle Plan wurde nie komplett umgesetzt. In Westdeutschland entstanden nur 25 Leistungsreaktoren, der letzte davon, Isar 2 in Bayern, ging 1988 ans Netz. Danach gab es keine AKW-Bestellungen mehr. Die Stimmung war gekippt, nicht nur durch die nach dem Beinahe-Super-GAU im US-Reaktor Harrisburg 1979 weiter zunehmenden Proteste ("Harrisburg ist überall").

Hauptfaktor war die Atomkatastrophe von Tschernobyl in der Ukraine 1986, die ganz Europa mit Radioaktivität überzog. Der Schock in Deutschland war groß. Becquerel-Zahlen ergänzten den Wetterbericht, der Fallout belastete Lebensmittel, Bauern mussten tonnenweise Obst, Milch und Gemüse vernichten, und die Behörden sperrten Spielplätze.

Die Bundesregierung von Union und FDP unter Helmut Kohl (CDU) richtete ein eigenes Bundesumweltministerium ein, das, so der Titel, auch für "Reaktorsicherheit" zuständig wurde. Politisch am wichtigsten: Die SPD revidierte ihre Position zur Atomkraft, sie beschloss, den Atomausstieg anzustreben.

Es dauerte allerdings noch 16 Jahre, bis die rot-grüne Koalition im Bundestag den Atomausstieg beschließen konnte – nach harten Verhandlungen mit den Stromkonzernen. Der Plan war: Die 19 aktiven AKW im Westen der Republik sollten schrittweise bis etwa 2022/​2023 abgeschaltet werden.

Gleichzeitig forcierte Rot-Grün erfolgreich die Einführung der erneuerbaren Energien, unterstützte aber auch den Neubau von Kohlekraftwerken, letzteres eine Hypothek für den Klimaschutz. Die Reaktoren im Osten waren schon 1990 gleich nach der Wende stillgelegt worden, wegen Sicherheitsmängeln der sowjetischen Bautypen.

Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sah den Atomkonsens als Meilenstein seiner Kanzlerschaft. Er befand: "Die Atomkraft ist eine gefährliche, auf lange Sicht teure und umweltschädliche Energieerzeugung, aus der wir schleunigst aussteigen müssen."

Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg

Doch der Konsens hielt nicht. Planmäßig gingen nur zwei AKW vom Netz, Stade 2003 und Obrigheim 2005. Im Jahr 2010 revidierte die schwarz-gelbe Bundesregierung von Angela Merkel (CDU) den Atomausstieg. Sie gab dem Druck der Energiekonzerne nach und beschloss eine erneute Laufzeitverlängerung für die vorhandenen AKW.

Gleichzeitig drosselte sie den Ausbau der Öko-Energien stark, der gerade Fahrt aufgenommen hatte – der wohl folgenschwerste Fehler der Ära Merkel in der Energiepolitik. Der längere AKW-Betrieb wurde damit gerechtfertigt, es handle sich um eine CO2-freie "Brückentechnologie".

Ein Jahr später war auch das wieder Makulatur. Im japanischen Fukushima explodierte nach einem Tsunami 2011 ein Atomkraftwerk, der erste Super-GAU in Reaktoren westlicher Bauart. Merkel erkannte sofort: "Das war's." So das kolportierte Zitat aus einer internen Runde.

Sieben AKW älterer Baulinien wurden kurzfristig vom Netz genommen, und der Bundestag beschloss im selben Jahr einen erneuten Atomausstieg, diesmal parteiübergreifend. Es war praktisch eine Rückkehr zum rot-grünen Abschaltplan: Die noch am Netz verbliebenen AKW sollten nach und nach bis Ende 2022 stillgelegt werden.

Die nachfolgenden Regierungen rüttelten nicht erneut an diesem Fahrplan, abgesehen vom "Streckbetrieb" der letzten drei AKW für zusätzliche dreieinhalb Monate. Den beschloss die Ampel-Koalition im vorigen Herbst gegen den anfänglichen Widerstand der Grünen, um gegen mögliche Stromknappheit wegen des Ukraine-Energiekriegs gewappnet zu sein.

Inzwischen läuft an mehreren Standorten der Abriss der stillgelegten AKW samt ihrer Kühltürme. Insgesamt dürfte es bis zum Rückbau des letzten Reaktors bis zur "grünen Wiese" noch bis etwa 2040 dauern. Erprobt worden war die Prozedur im großen Stil erstmals beim AKW Würgassen an der oberen Weser, das 1997 wegen Haarrissen im Kernmantel am Reaktorkern abgeschaltet wurde. Der Rückbau dort dauerte volle 17 Jahre.

Der Atommüll bleibt

Ansonsten versuchte die Politik nach Jahrzehnten heftiger Kämpfe, die von Anfang an verkorkste Atommüll-Politik auf ein neues Fundament zu stellen. Ein besonders schwieriges Kapitel nach gravierenden Fehlentscheidungen, Stichworte "Asse" und "Gorleben".

Es entstanden milliardenschwere Altlasten: In den 1960er und 1970er Jahren kippten die Verantwortlichen Atom-Fässer in das löchrige, von Wassereinbrüchen gefährdete Alt-Bergwerk Asse II bei Wolfenbüttel. Die Sanierungskosten werden heute auf bis zu fünf Milliarden Euro geschätzt.

Noch fahrlässiger war die Auswahl des Gorlebener Salzstocks im Wendland und dessen Erkundung als mögliches Endlager für den hochradioaktiven Abfall, worin zwei Milliarden versenkt wurden. Nicht fachliche Gründe hatten dafür 1977 den Ausschlag gegeben, sondern die Lage in einer dünn besiedelten, wie man fälschlich dachte, verschlafenen Region an der damaligen Zonengrenze.

Die Berichterstattung der Frankfurter Rundschau über die Dokumente, die das belegen, führte 2010 zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses im Bundestag. 2013 beschloss das Parlament dann einen kompletten Neustart der Endlagersuche, Gorleben schied dabei 2020 aus. Das Urteil der zuständigen Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) lautete: aus geologischen Gründen ungeeignet.

Das ungelöste Endlager-Problem zeigt: So ganz ist das Atomzeitalter in Deutschland doch noch nicht zu Ende. Die BGE schätzt, dass die Suche nach dem geeigneten Standort, an dem der Müll eine Million Jahre sicher untergebracht werden soll, mindestens bis 2046 dauern wird, eventuell sogar bis 2068.

Bis dann das Tiefbergwerk gebaut ist und alle Castor-Behälter dort untergebracht sind, die jetzt noch in Zwischenlagern an den AKW-Standorten stehen, dürfte es 2100 werden.

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