Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, die Mega-Niederschläge, die jüngst die Überflutungen in Österreich, Polen und Tschechien verursachten, sind laut einer Analyse durch die globale Erwärmung doppelt so wahrscheinlich und um sieben Prozent heftiger geworden als in einem unveränderten Klima.
Dass der Klimawandel Wetterextreme verstärkt, ist fast schon ein Allgemeinplatz. Sind solche Analysen dennoch weiter wichtig?
Hartmut Graßl: Wenn sich das Klima durch eine zunehmende Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre ändert, dann steigt nicht nur wie zurzeit die mittlere Temperatur, sondern auch die örtliche Verteilung der Temperatur wie auch des Niederschlags ändert sich.
Denn auch die Zirkulationstypen in der Atmosphäre zeigen eine veränderte Häufigkeit, wodurch sich die herangeführten Luftmassen an einem Ort ändern, wodurch auch die Anströmung von Hügeln oder Bergen variiert. Es gibt dadurch Regionen mit mehr oder weniger Gesamtniederschlag oder auch neuen Niederschlagsextremen.
Also wird auch die Verteilung der Niederschlagsmengen und damit der Extremwerte für jeden Ort anders sein als früher. Um das feststellen zu können, benötigt man lange Zeitreihen, und auch diese helfen nur teilweise für eine Abschätzung in die Zukunft, weil sich das Klima wegen der fortgesetzten Treibhausgasemissionen weiter verändert.
Einen Ausweg bieten die mit den Beobachtungsreihen der Vergangenheit erfolgreich getesteten gekoppelten Atmosphäre-Ozean-Modelle. Weil sie mit und ohne erhöhten Treibhauseffekt rechnen können, sind sie geeignet für eine Abschätzung der von uns Menschen mitverursachten Extremwerte bei Temperatur und Niederschlag. Immer mehr Forschungsgruppen tun das vor allem für die Hitzewellen und auch – mit etwas weniger Genauigkeit – für die Starkregenereignisse.
In Zukunft werden diese Abschätzungen des anthropogenen Einflusses auf Klimaparameter besonders bedeutend für die Zuordnung von Verlusten und Schäden, wie sie für das Paris-Abkommen beschlossen ist und demnächst beginnen wird.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke hat diese Woche ein neues Hochwasserschutzgesetz auf den Weg gebracht. Die Pläne der grünen Ministerin sehen vor, den Bau von Dämmen, Deichen und Rückhaltebecken zu beschleunigen. Außerdem geht es um zusätzliche Möglichkeiten für Städte und Gemeinden, angepasste Schutzkonzepte zu erarbeiten.
Viele sind der Meinung, es wäre jetzt wichtiger, sich gegen die zunehmenden Wetterextreme zu wappnen, als Milliarden in einen Klimaschutz zu stecken, der in den nächsten Jahren ohnehin nichts gegen Extremwetter ausrichtet. Ist da was dran?
Sicherlich ist für den Schutz vor Hochwasser der rasche Bau von Dämmen und Deichen sowie Rückhaltebecken notwendig, weil die globale Erwärmung an der Erdoberfläche die Starkregenwahrscheinlichkeit erhöht.
Allerdings: Mit jedem weiteren Jahr ohne kräftige globale Minderung der Treibhausgasemissionen steigt in der nahen Zukunft die heute schon eklatante Ungerechtigkeit durch die Klimaänderungen noch weiter an.
Wohlhabende Länder wie Deutschland können sich leichter an Klimaänderungen anpassen als die ärmeren Länder. Bei letzteren werden die Überschwemmungen, aber auch die extrem langen und rekordbrechenden Hitzewellen vor allem in den Tropen und Subtropen, zu Migration im eigenen Land und auch in die Industrieländer führen.
Wegen des jahrzehntelangen Negierens der Bedrohung durch den Klimawandel durch fast alle Regierungen müssen jetzt die Anpassung an die nicht mehr vermeidbaren Klimaänderungen und der globale Klimaschutz gleichzeitig in weit stärkerem Maße geschultert werden.
Wer die Klimaanpassung höher wertet als den Klimaschutz, treibt noch viel mehr Menschen in bittere Armut und in den Tod und wird in einigen Jahrzehnten in einer weiteren Welle der Anpassung Siedlungen aufgeben müssen. Klimaschutz und Anpassung sind gemeinsam wichtig – und wichtiger als neue Autobahnen in den wohlhabenden Ländern.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat den Entwurf für eine deutsche Carbon-Management-Strategie vorgelegt. Die Strategie geht davon aus, dass 2045 in Industrie und Abfallwirtschaft rund 34 Millionen Tonnen sogenannte schwer vermeidbare Emissionen abgeschieden und dann entweder gespeichert oder als Kohlenstoffquelle genutzt werden müssen. Ist es wirklich wichtig, jetzt schon darüber nachzudenken, wo Industrien wie Chemie künftig klimaneutralen Kohlenstoff für ihre Produkte herbekommen?
Es ist vergleichsweise einfach, Treibhausgasemissionen zu mindern, wenn – wie schon mehrfach geschehen – Kohlekraftwerke abgeschaltet und durch heute preiswerte Windkraft- und Photovoltaikanlagen ersetzt werden, wobei ein großflächiges, fast europaweites Stromnetz bei Wetterlagen nahe den Dunkelflauten helfen kann. In der ersten Hälfte dieses Jahres kamen bei uns schon über 60 Prozent des genutzten elektrischen Stroms aus erneuerbaren Quellen.
Um die für 2045 gesetzlich vorgeschriebene Treibhausgasneutralität in Deutschland zu erreichen, müssen aber auch die sehr schwierig zu mindernden Kohlendioxidemissionen etwa aus der Zementproduktion oder die nur mit hohem Aufwand vermeidbaren Emissionen aus der Abfallwirtschaft abgeschieden und zum Beispiel unter dem Meeresboden in früheren Erdgas- und Erdöllagerstätten gespeichert oder nach 2045 als Kohlenstoffquelle für die Industrie bereitgestellt werden.
Gemessen an der typischen Zeit, die für den Bau neuer Infrastruktur nötig ist, freut es mich, dass das Wirtschaftsministerium jetzt diese Kohlenstoffmanagement-Strategie erarbeitet, um nicht zu spät damit zu starten.
Noch mehr braucht jedoch die Landwirtschaft eine solche Strategie für die Kohlenstoffverbindungen CO2 und Methan, bei der weit größere schwer vermeidbare Treibhausgasemissionen reduziert oder beendet werden müssen. Denn das erfordert den schon längst fälligen stark veränderten Umgang mit dem unsere Ernährung sichernden Boden und auch mit den Nutztieren.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Die Industrialisierung in den weniger entwickelten Ländern braucht zusätzliche Energie. Bisher war und ist der mit Geld aus dem Ausland unterstützte Bau neuer Kohlekraftwerke ein wesentlicher Grundpfeiler dafür. Im neuesten Heft von Nature Climate Change zeigen überwiegend chinesische Kollegen erstmals die globalen Zahlen dazu.
Demnach behindern diese Investitionen in fossile Energieträger die im Paris-Abkommen verbindlich auch für alle Entwicklungsländer geforderte globale Dekarbonisierung ganz wesentlich, weil ja die neuen Kraftwerke einige Jahrzehnte laufen werden.
Die Autoren untersuchten 908 solcher Kraftwerksprojekte, die zusammen jährlich etwa eine halbe Milliarde Tonnen CO2 emittieren. Insgesamt haben diese Kohlekraftwerke schon 26 Milliarden Tonnen in die Atmosphäre entlassen. Die Investitionen der entwickelten Länder trugen mit 78 Prozent zu diesen CO2-Emissionen bei. Die Investitionsanteile der Entwicklungsländer stiegen von acht Prozent im Jahr 1960 auf 39 Prozent im Jahr 2022.
Bis zum Jahr 2060 würden bei unveränderter Politik und Technologie diese Kohlekraftwerke mit weiteren 15 bis 30 Milliarden Tonnen zum globalen Ausstoß von CO2 beitragen. Außerdem könnten sie durch die lokale Industrialisierung zusätzliche Emissionen stimulieren.
Diese Untersuchung unterstreicht die Bedeutung des internationalen Kapitals bei der bisher oft erfolglosen Dekarbonisierung der Entwicklungsländer. Die jährlichen UN-Klimakonferenzen müssen diese Chance zu einer wesentlichen Dekarbonisierung dringend ergreifen.
Fragen: Jörg Staude