Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, seit den 1970er Jahren hat sich die Zahl wetterbedingter Naturkatastrophen laut der Weltwetterorganisation WMO verfünffacht, angetrieben auch durch den Klimawandel. In diesen 50 Jahren hat besseres Warn- und Katastrophenmanagement die Todesfälle aber auf rund ein Drittel gesenkt – "nur" noch 186.000 waren es in der vergangenen Dekade. Mehr Katastrophen, aber weniger Opfer – wie bewerten Sie diese Bilanz?
Hartmut Graßl: Es hat lange gedauert, bis die Weltorganisation für Meteorologie in dieser Woche wiederholt hat, was seit Jahrzehnten in den globalen Daten und Tabellen der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft immer wieder zu lesen war: Die Zahl der wetter- und klimabedingten Katastrophen und die Höhe der dadurch verursachten Schäden steigen rasant, aber die Zahl der dabei sterbenden Menschen nimmt glücklicherweise ab.
Dass dabei, also bei der Explosion der Schäden durch Extremwetter, die Erwärmung der Erdoberfläche eine zentrale Rolle spielt, wird inzwischen auch von vielen früher Zweifelnden anerkannt. Dass immer weniger Menschen dabei sterben, liegt vor allem an der immer besseren Vorhersage der kommenden Extremwetterlagen.
Durch die stark gestiegene und immer noch steigende Güte der global immer feiner räumlich auflösenden Vorhersagemodelle, deren Startfelder mit immer genaueren Beobachtungen von Wettersatelliten gespeist werden, könnte die Zahl der Opfer und auch die Schadenshöhe noch viel weiter gedrückt werden. Es müssten noch viel weniger Menschen bei diesen Katastrophen sterben, wenn dieses Wissen bei den Bürgern richtig ankäme.
Das Paradebeispiel für die fehlende Weiterleitung des Wissens oder das Nadelöhr bei der Kommunikation von den Fachdiensten zur Bevölkerung ist die Flutkatastrophe im eigenen Land am 14. und 15. Juli 2021. Obwohl die Wetterdienste ihr Metier so gut beherrschten, dass sie sogar Tage vorher neue Niederschlagsrekorde pro Tag vorhersagen konnten und dies von Tag zu Tag mit immer höherem Detailgrad taten, waren sich viele Bürger der Lebensgefahr noch nicht bewusst, als die Flüsse schon extreme Wasserstände aufwiesen. Wir müssen also rasch für ein durchgängiges Warnsystem sorgen.
Klimaschutz wird derzeit im Bundestagswahlkampf auf zwei Fragen reduziert: Was sollen verboten werden? Was müssen wir den Menschen zumuten? Das kritisiert die Energieökonomin Claudia Kemfert, ebenfalls Mitglied im Klimareporter°-Herausgeberrat. Was müsste im Wahlkampf stärker angesprochen werden?
Der seit Jahren von Politikern gemachte Grundfehler wird auch jetzt wieder von den meisten Parteien wiederholt: Klimaschutz koste viel und deshalb müssten wir diese Last gerecht verteilen und zeitlich strecken. Richtig teuer wird es aber bei fehlendem Klimaschutz und der dadurch notwendigen, aber meist ungenügenden Anpassung an nicht mehr zu vermeidende Klimaänderungen, wie jetzt in Deutschland.
Nach der Hochwasserkatastrophe im Tal der Ahr und der Erft müssen für Sachschäden, die nur in einem sehr kleinen Teil unseres Landes mit vergleichsweise wenig Bevölkerung auftraten, 30 Milliarden Euro aus der Steuerkasse Bürger aufgewendet werden. Investitionen in die Anpassung an veränderte Extremwetterlagen wären um mehr als eine Größenordnung niedriger gewesen und hätten die Schäden größtenteils verhindert.
Wollen wir immer wieder Schäden begleichen, die zudem bei weiter unterlassenem Klimaschutz immer weiter steigen werden, wo uns doch viele falsche, über Jahrzehnte gewährte Subventionen für fossile Brennstoffe, zum Beispiel für den Dieseltreibstoff, und fehlender globaler Klimaschutz die Probleme beschert haben?
Jedes Land muss jedes Jahr einen Teil seiner Energieinfrastruktur erneuern. Was wir früher für Kohle-, Gas- und Kernkraftwerke und für Stromtrassen investiert haben, fließt jetzt in die Energieträger Sonne und Wind und in Netzanpassungen, sogar bei hoher Bürgerbeteiligung.
Die darüber hinaus noch notwendigen Investitionen vor allem in weitere Sonnenenergienutzung mit Speicherung sollten aus den rasch und verlässlich zu steigernden CO2-Abgaben geholt werden. Die Preise für Energie müssen endlich die verursachten Umweltschäden einschließen, sie sollten die ökologische Wahrheit sagen.
Umweltverbände fordern eine Neuausrichtung der Infrastruktur- und Mobilitätsplanung, darunter einen vorläufigen Stopp des Neubaus von Fernstraßen. Sie stören sich besonders am aktuellen Bundesverkehrswegeplan, der bis 2030 reicht, und am Fernstraßenbedarfsplan. Halten Sie ein Baumoratorium für Fernstraßen für hilfreich?
Die Forderung der Umweltverbände nach einem Moratorium für den Aus- und -neubau von Fernstraßen ist nach meiner Ansicht nicht ausreichend. Ich sehe überall Klimaschutzaktivitäten und Klimagesetze sprießen, während der Schutz der noch vorhandenen und die Wiederherstellung der verloren gegangenen Biodiversität in den Forderungen der Umweltverbände leider als nachrangig behandelt werden.
Ein Land, dessen Bevölkerung nicht mehr wächst, muss den Flächenverbrauch für Verkehrsinfrastruktur stoppen. Wenn überhaupt noch neue Verkehrsflächen geschaffen werden, muss an anderer Stelle die gleiche Hektarzahl entsiegelt und naturnah gehalten werden.
Bei Einhaltung der verschärften Klimaschutzgesetze wird in naher Zukunft der Verkehr auf Straße und Schiene weniger klimaändernd sein, aber jede neue Straße trägt ohne den genannten Ausgleich weiter zum galoppierenden Artenschwund und zum generellen Verlust an Biodiversität bei.
Haben wir angesichts der vielen nach Renovierung schreienden Brücken und des zusätzlich nötigen Hochwasserschutzes an Straßen und Bahnlinien überhaupt noch genügend Geld für neue Verkehrsinfrastruktur? Der jetzige Bundesverkehrswegeplan passt überhaupt nicht mehr in die Zeit, er ist fossil wie die alten Energieträger.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Gerade habe ich von der erstmaligen Ausrufung des Sturzflut-Notstands durch den Wetterdienst der USA, auch für die Millionenstadt New York, erfahren. Der tropische Wirbelsturm "Ida", umgewandelt in ein Tiefdruckgebiet mittlerer Breiten, hat – wie im Juli bei uns in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen – zu neuen Niederschlagsrekorden geführt, in diesem Fall über einer Millionenstadt. Gemessen wurden bis zu 80 Millimeter Regen in einer Stunde.
Besonders überraschend ist, dass der Kern des zwischen Montag und Donnerstag von Louisiana nach New York über Land ziehenden Tiefdruckgebiets von der viel höheren Wasserdampfzufuhr über warmem Wasser abgeschnitten war und dennoch diese Sturzfluten in New Jersey und New York auftraten.
Viele Regionen mittlerer Breiten werden mit der weiter steigenden Erdoberflächentemperatur solche neuen und in Zukunft noch heftigeren Niederschlagsrekorde erleben. Eine Erwärmung um ein Grad Celsius erhöht die mögliche Niederschlagsmenge um sieben Prozent. Bei Gewittern kann dieser Wert sogar auf über zehn Prozent steigen.
Der bisherige Hochwasserschutz ist deshalb auch in hoch entwickelten Ländern immer weniger an die Extremniederschläge angepasst. Die Anpassung an die neuen, weiter wachsenden Extremniederschläge wird viel Geld verschlingen. Aber noch kostspieliger ist die Schadensregulierung in dicht besiedelten Regionen, wenn die Schutzmaßnahmen fehlen.
Nur globaler Klimaschutz durch Einhaltung des Paris-Abkommens von 2015 kann langfristig die weiteren Zuwächse bei Rekordniederschlägen verhindern.
Fragen: Jörg Staude