Der Jakobshavn-Gletscher auf Grönland fließt langsamer ab.
Das Einzugsgebiet des Jakobshavn-Gletschers an der Westküste Grönlands umfasst etwa sieben Prozent des grönländischen Inlandeises. (Foto: ESA)

Klimareporter°: Herr Graßl, ein Forschungsteam hat Anzeichen gefunden, dass sich Teile des Grönländischen Eisschildes destabilisieren. Demnach scheint sich das Schmelzen zu beschleunigen. Was passiert da in der Region?

Hartmut Graßl: Wenn in den Hochlagen eines Inlandeises im Hochsommer an der Oberfläche Nassschnee auftritt, dann ist das Inlandeis nahe an einem Kipp-Punkt, weil es dabei einsinkt und in niedrigere Höhenlage bei höheren Temperaturen gerät.

Wenn die Temperatur global weiter steigt, steigt auch die Temperatur an der Eisoberfläche stärker als die Temperatur bei fester Höhenlage. Diese Aussage gilt inzwischen für fast das ganze innere grönländische Inlandeis. Bremsend oder stabilisierend könnte nur noch verstärkter Schneefall wirken.

Zusätzlich tritt bei Nassschnee ein weiterer das Schmelzen beschleunigender Effekt auf, weil angetauter Schnee fast doppelt so viel Sonnenenergie aufnimmt wie Pulverschnee. Das Reflexionsvermögen von Pulverschnee liegt bei etwa 85 Prozent und das des einmal angetauten Schnees manchmal auch unter 70 Prozent.

An der Ostabdachung des Grönländischen Eisschildes habe ich 1967 in Zugspitzhöhe, also in 2.960 Metern, einen Sommer nur mit Pulverschnee verbracht. Heute ist dort fast jeden Sommer Nassschnee.

Für die Studie haben die Forscher:innen Daten aus dem Jakobshavn-Becken ausgewertet, die bis zu 140 Jahre zurückreichen. Wie sieht die Datenlage für den gesamten Grönländischen Eisschild aus?

Gegenwärtig ist die Datenlage durch Satellitenbeobachtungen für das gesamte Inlandeis Grönlands sehr gut. Die Höhenlage des Eises oder Schnees wird mit Zentimetergenauigkeit gemessen, und auch die Horizontalgeschwindigkeit der Eisströme oder Gletscher ist mit ausreichender Genauigkeit zur Feststellung von Änderungen bekannt. Daten aus der Ära vor den Satelliten gibt es fast keine.

Die Inlandeis- und die Klimamodellzentren sind sicher schon dabei, ihre Modelle mit diesen Satellitendaten zu testen, zu verbessern und dann verbesserte Abschätzungen zu liefern. Diese Abschätzungen liefern uns dann Hinweise, was über das Paris-Abkommen hinaus noch von der internationalen Politik beschlossen werden muss, um Kipppunkte wie den angesprochenen mindestens zu verzögern.

Auf jeden Fall ist dazu Weltinnenpolitik notwendig, das heißt die Stärkung der Vereinten Nationen.

Die Autor:innen warnen, dass der Kipppunkt bald überschritten werden könnte. Auch 2020 glaubten US-Forscher:innen, der Kipppunkt für das Grönländische Inlandeis könnte schon erreicht sein. Weshalb ist es so schwer, Kipppunkte zu bestimmen?

Zum Verständnis von Kipppunkten brauchen wir zunächst zwei Dinge: flächendeckende Datensätze, zum Beispiel über das Fließverhalten der Inlandeise oder die Methan- und CO2-Emissionen aus Permafrostgebieten, und dann damit geeichte entsprechende Prozessmodelle, die für Extrapolationen in die Zukunft verwendet werden können. Diese Datensätze sind nur teilweise vorhanden – von den Weltraumagenturen Europas und der USA – und auch nur für die jüngste Zeit.

Das Abschmelzen der Eismassen Grönlands könnte sich auch auf andere klimarelevante Systeme auswirken. Zum Beispiel könnte Schmelzwasser des Grönlandeises den Golfstrom im Nordatlantik beeinflussen, teils wird sogar ein Abbruch der Golfströmung diskutiert. Wie ernst ist die Situation?

Porträtaufnahme von Hartmut Graßl.
Foto: MPI-M

Hartmut Graßl

arbeitet seit Jahrzehnten in der Klimaforschung und war einer der ersten Wissenschaftler in Deutschland, die vor den Folgen des Klimawandels warnten. Der Physiker und Meteorologe war bis 2005 Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg. Graßl ist Mitglied des Herausgeberrates von Klimareporter°.

Die gegenwärtigen Schmelzwasserflüsse sind verglichen mit den Süßwasserflüssen durch veränderte Niederschläge in den Atlantik noch klein.

Ein Zahlenbeispiel: Ein Tiefdruckgebiet in den mittleren Breiten schüttet bei voller Entwicklung circa eine Million Kubikmeter Süßwasser pro Sekunde in den Atlantik. Jetzt schüttet Grönland circa 250 Milliarden Tonnen pro Jahr in den Atlantik, das sind nur knapp 8.000 Tonnen pro Sekunde.

Also wird die Schmelzrate noch stark zunehmen müssen, bis diese Mengen vergleichbar groß sind und damit eine wesentliche Wirkung für die Umwälzbewegung des Atlantiks auftritt.

Auch in vielen anderen Regionen schmelzen die Gletscher. Wo ist das besonders besorgniserregend und warum?

Die Gebirgsgletscher spielen nur eine untergeordnete Rolle, weil sie den Meeresspiegel bei völligem Verschwinden nur um etwa 35 Zentimeter ansteigen ließen.

Ein weiterer Kipppunkt wird in der Wissenschaft schon seit Jahrzehnten diskutiert: die Desintegration des Westantarktischen Eisschildes bei starkem Anstieg des Meeresspiegels, weil der Eisschild zum großen Teil untermeerisch verankert ist, also sein Felssockel unter dem Meeresspiegel liegt. Beobachtungen mit den speziellen Satelliten der USA und Europas für die Kryosphäre zeigen, dass seine Eisströme verstärkt in den Ozean kalben und zurzeit etwa ebenso viel zum Meeresspiegelanstieg beitragen wie das grönländische Inlandeis.

Die zukünftige Entwicklung der Eisschilde hängt sehr stark von der Erwärmung der Atmosphäre ab. Vor etwa einem Monat hatte US-Präsident Joe Biden zum virtuellen Klimagipfel geladen. Die USA haben ihren Klimaplan vorgelegt, sie wollen ihre Treibhausgas-Emissionen bis 2030 gegenüber 2005 halbieren. Auch andere Länder wie Großbritannien, Kanada oder die EU haben ihre Klimaziele erhöht. Kommt jetzt endlich die nötige Dynamik in die internationale Klimapolitik?

Die Klimaschutzrhetorik und die Setzung von verschärften Zielen haben stark zugenommen. Es gibt aber auch echte Maßnahmen wie zum Beispiel die Kohlendioxidsteuer in einigen Ländern, etwa Deutschland.

Auch das Verfassungsgerichtsurteil von Ende April, das die Entlastung der jüngeren Generation beim Klimaschutz forderte, hat vor der Bundestagswahl, also zum richtigen Zeitpunkt, in Deutschland ein Klimaschutzrennen zwischen fast allen Parteien ausgelöst.

Im vergangenen Jahr ist die Klimakonferenz ausgefallen. Was muss die COP 26 dieses Jahr in Glasgow leisten?

Für dieses Jahr steht routinemäßig die Nennung neuer verschärfter Klimaschutzziele für die Länder an, die das Paris-Abkommen ratifiziert haben, also für fast alle Länder. Mit dem neuen und vergleichsweise starken Ziel der USA ist ein Wegducken schwer möglich.

Außerdem hat die Sars-Cov-2-Pandemie gezeigt, dass staatliches Handeln in Krisen wesentlich für den Erfolg ist und das Respektieren wissenschaftlicher Befunde und Ratschläge weit besser ist, als sie zu missachten. Das gilt sowohl für reiche als auch arme Länder.

Der Klimakrisengipfel in Glasgow wird wahrscheinlich in die Geschichte eingehen als der mit Beschlüssen zu echter Klimakrisenbewältigung.

Noch ein Wort zu Deutschland: Die Bundesrepublik will nach dem Beschluss des Verfassungsgerichts nun bis 2045 klimaneutral werden – und ihre Emissionen bis 2030 um 65 Prozent im Vergleich zu 1990 senken. Reicht das?

Die rasche Reaktion der jetzigen Bundesregierung auf die unabhängige Rechtsprechung unseres obersten Gerichts ist positiv. Allerdings ist das bisher nur ein – schwieriger zu erreichendes – Ziel. Andererseits ist es auch bei Realisierung des Ziels nur ein kleiner Teil des globalen Auftrags. Die Erfüllung des Paris-Abkommens hängt entscheidend von den beiden "Emissionsriesen" China und USA ab.

Ob ein Nachsteuern notwendig ist, ist auch von weiteren Erkenntnissen in der Klimaforschung abhängig.

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