Golfstrom
Der Golfstrom bewirkt, dass Orte auf dem gleichen Breitengrad in Europa und Nordamerika zu ganz verschiedenen Klimazonen gehören. (Foto: Pat Brennan/​NASA/​Quapan/​Flickr)

Ein Europa ohne Golfstrom? Das heißt: Ganz Skandinavien liegt unter einer Eisdecke, und in Hamburg oder Berlin herrscht sibirisches Klima. Die polare Kaltluft fällt erbarmungslos über Europa herein, denn es gibt kein temperiertes Nordmeer-Wasser, das die arktischen Winde erwärmt, bevor sie das Festland erreichen.

Das Szenario verdeutlicht: Die natürliche "Wärmepumpe" – der Golfstrom und seine Verlängerung Richtung Europa, der Nordatlantikstrom – ist ein Lebenselixier für Nord- und Mitteleuropa.

Die Strömung fördert gigantische Mengen des warmen Wassers aus dem Golf von Mexiko nach Nordosten quer über den Atlantik, vorbei an den Küsten Großbritanniens und Irlands bis hinauf nach Nordnorwegen. Vor Grönland sinkt das Wasser dann in die Tiefe ab und strömt abgekühlt wieder nach Süden.

Ohne diese Umwälzanlage hätten Nord- und Mitteleuropa ein mit Alaska vergleichbares Klima. Seit seinem abrupten Entstehen vor rund 15.000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit, war das System innerhalb gewisser Grenzen stabil. Doch inzwischen ist klar: Die Pumpe läuft bereits deutlich schwächer.

Golf- und Nordatlantikstrom sind Teil eines weit verzweigten Strömungssystems in den Weltmeeren. Das Golfstrom-System transportiert bis zu 150 Millionen Kubikmeter Wasser pro Sekunde: mehr als 100-mal so viel, wie über alle Flüsse der Erde zusammen in die Meere fließt.

Die Wärme, die die Strömung mit sich führt, entspricht der Leistung von rund einer Million Atomreaktoren. Dieser Vergleich macht deutlich, wieso ein mögliches Versiegen der Zirkulation große Auswirkungen auf die Nordhalbkugel hätte – und warum Klimaforscher den Golfstrom als eines der Kippelemente im Erdsystem bezeichnen.

Daten von Tausenden Messbojen

Der Name Golfstrom wurde vom US-amerikanischen Allroundgenie und Staatsmann Benjamin Franklin geprägt. Franklin ließ 1770 als Erster eine Karte der Meeresströmungen im Atlantik anfertigen. Als Entdecker des Golfstroms gilt aber der spanische Seefahrer Juan Ponce de Léon.

Tatsächlich war es sein Navigator Antón de Alaminos, dem auf einer Expedition im Jahr 1503 ins heutige Florida eine gewaltige Meeresströmung auffiel, die in Küstennähe seinen Schiffen den Weg nach Süden erschwerte. Schon kurze Zeit darauf machte Alaminos sich die Strömung zunutze, indem er für den Rückweg nach Spanien einen Kurs auswählte, auf dem die Strecke in der damals sensationell kurzen Zeit von zwei Monaten zu schaffen war.

Heutzutage werden der Golfstrom und andere thermohaline Strömungen in den Weltmeeren wissenschaftlich exakt vermessen. Das vor 20 Jahren gestartete internationale Argo-Programm setzt weltweit fast 4.000 automatisierte Treibbojen ein, davon einen großen Teil im Atlantik zwischen Grönland, Skandinavien und Nordamerika, Afrika und Südamerika.

Die Argo-Bojen übertragen von dort Wassertemperatur, Salzgehalt und Strömung, die in bis zu 2.000 Metern Tiefe erhoben werden. Im britisch-amerikanischen Messprojekt Rapid wird zudem mit 226 am Meeresboden verankerten Instrumenten seit 2004 die Gesamtströmung am besonders geeigneten Breitengrad 26,5° Nord ermittelt.

Um längerfristige Veränderungen erkennen zu können, nutzen Forscher Datensätze zu Meerestemperaturen im Atlantik, die es seit dem 19. Jahrhundert gibt, zudem Analysen von Bohrkernen aus Sedimenten am Meeresgrund, die Aufschlüsse über die Strömungsverhältnisse in den vergangenen 1.600 Jahren geben.

15 Prozent weniger Strömung seit 1950

Klimamodelle sagen seit Langem voraus, dass die Folgen der erhöhten Temperaturen die Stabilität des Golfstrom-Nordatlantikstrom-Systems gefährden könnten – bis hin zu einem völligen Stillstand.

Befürchtet wird, dass die Erwärmung der Meere, ein wachsender Einstrom von Schmelzwasser aus Grönland und mehr Niederschläge das Absinken des Warmwassers im Nordatlantik und damit seine Rückkehr Richtung Golf von Mexiko bremsen. Hauptgrund: Der relativ hohe Salzgehalt des Wassers, der das Absinken mit bewirkt, würde durch die stärkere Süßwasser-Zugabe sinken.

Tatsächlich haben mehrere internationale Forscherteams nachgewiesen, dass sich die Umwälzströmung im Atlantik bereits abgeschwächt hat und heute geringer ist als jemals in den vergangenen 1.000 Jahren. Experten um Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zeigten etwa 2018 in einer Untersuchung, dass sie seit 1950 um 15 Prozent abgenommen hat.

"In absoluten Zahlen bedeutet das eine Abschwächung der Strömung um drei Millionen Kubikmeter pro Sekunde – eine Menge, die dem Dreifachen des Abflusses aller Flüsse der Erde zusammen entspricht", erläutert Rahmstorf, einer der weltweit führenden Forscher auf dem Gebiet.

Serie: Kippelemente

Werden die Kippelemente im Klima- und Erdsystem ausgelöst, kann es zu Kettenreaktionen kommen, durch die sich die Erderwärmung unkontrollierbar verstärken würde. Wissenschaftler haben 16 Kippelemente identifiziert, die sogar für ein Ende der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, sorgen könnten. Wir stellen sie in einer Serie vor.

Laut einer Studie britischer Klimaexperten, die die Umwälzströmung in den vergangenen 1.500 Jahren rekonstruierten, begann die anomale Abschwächung des Nordatlantik-Stroms bereits um 1850 und hat sich seither verstärkt. Die Forscher taxieren das Minus auf 15 bis 20 Prozent.

Einschneidende Folgen

Die Trends entsprächen "exakt dem, was Computersimulationen für eine Verlangsamung des Strömungssystems vorhersagen", sagt Rahmstorf. Eine weitere Abschwächung hält er für wahrscheinlich, wenn die globale Erwärmung nicht zwischen 1,5 und zwei Grad gestoppt wird, wie im Pariser Klimavertrag vereinbart. Ob es zum befürchteten Komplett-Ausfall des Golfstroms kommen könnte, ist noch unklar.

Allerdings: Auch ein abgeschwächtes Golfstrom-System kann einschneidende Folgen haben. Hält der Trend an, könnte er die Wettermuster Europas fundamental verändern, warnen Experten. Die veränderte Temperaturverteilung im Meer beeinflusst die Luftströmungen und führt so dazu, dass etwa Tiefdruckgebiete und Stürme auf anderen Bahnen ziehen. So könnte unter anderem das Sturmrisiko in Europa steigen.

Auch paradoxe Folgen sind denkbar: Ein kälterer, weniger vom Golf- und Nordatlantikstrom erwärmter Atlantik kann Hitzewellen in Europa auslösen, weil dadurch das Einströmen von Warmluft aus dem Süden begünstigt wird.

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