Es sind, zumindest langfristig, wirklich düstere Aussichten: Schmilzt der Grönland-Eisschild komplett ab, würden viele der küstennahen Megastädte wie New York, London oder Shanghai unbewohnbar. Möglich wäre auch ein Zusammenbruch des Golfstroms, also von Europas "Zentralheizung", die für das relativ milde Klima auf unserem Kontinent sorgt.

Doch neue Forschungen zeigen, dass der gigantische Eispanzer wahrscheinlich widerstandsfähiger gegen die globale Erwärmung ist als bisher angenommen. Selbst ein – kurzfristiger – starker Anstieg der Temperaturen wäre danach tolerabel. Allerdings müsste dann schnell gegengesteuert werden.

 

Der Eisschild auf der größten Insel der Erde, einem autonomen Teilstaat Dänemarks, gilt als eines der Kippelemente im Klimasystem. Das Eis bedeckt 84 Prozent der Fläche, ist stellenweise drei Kilometer dick und enthält rund 2,6 Millionen Kubikkilometer Wasser. Schmilzt dieser gefrorene Panzer komplett ab, würde das den Meeresspiegel um sieben Meter anheben – freilich erst über Jahrhunderte oder Jahrtausende.

In den letzten Jahren gab es Befürchtungen, dass das Grönland-Eis seinen Kipppunkt bereits erreicht haben könnte. So fand ein US-Forschungsteam 2018 heraus, dass der jährliche Eisverlust im letzten Jahrzehnt teilweise viermal so hoch war wie etwa 2003, in der Spitze waren es 400 Milliarden Tonnen im Jahr.

Als Grund dafür wurde genannt, dass auch das grönländische Inlandeis zu schmelzen begonnen habe – aufgrund der Wetterphänomens der Nordatlantischen Oszillation, die warme Luftströmungen in die West-Arktis leitet, sich inzwischen aber mit der globalen Erwärmung überlagert.

Eisschild reagiert sehr langsam

Die neue Studie einer internationalen Forschungsgruppe zeigt nun, dass selbst bei einem vorübergehenden Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um bis zu 6,5 Grad Celsius bis 2100 und der damit einhergehenden Überschreitung kritischer Temperaturschwellen ein komplettes Kippen des Eisschildes verhindert werden könnte.

Dafür müssten die Treibhausgasemissionen allerdings nach den Temperaturspitzen so schnell wie möglich heruntergefahren werden, um sie dann langfristig auf maximal 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau stabilisieren zu können. Die Studie ist jetzt in der Fachzeitschrift Nature erschienen.

Hauptautor Nils Bochow von der Universität Tromsø in Norwegen erläuterte: "Wir haben untersucht, wie der Grönländische Eisschild über Jahrhunderte bis Jahrtausende auf die drastische und schnelle, aber bisher noch vergleichsweise kurzlebige Erwärmung unserer Zeit reagieren könnte."

Es habe sich gezeigt, dass die Eismassen so langsam auf die vom Menschen verursachte Erwärmung reagieren, dass ein unwiderrufliches Schmelzen und damit ein kompletter Zusammenbruch des Eisschildes noch zu verhindern wären. Jedoch müsste die Weltgemeinschaft es dann schaffen, den derzeitigen Erwärmungstrend innerhalb von Jahrhunderten wieder umzukehren.

"Unsere Studie verdeutlicht, dass wir selbst dann noch eine Chance zum Handeln haben, wenn es uns nicht gelingt, in den kommenden Jahrzehnten unter 1,5 bis zwei Grad globaler Erwärmung zu bleiben und wir die kritische Temperaturschwelle des Grönländischen Eisschildes vorübergehend überschreiten", sagte Bochow.

Das gilt dem Team zufolge sogar in dem Fall, dass bis zum Jahr 2100 ein Plus von 6,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau erreicht würde, was als "Overshoot" bezeichnet wird. Der Pariser Klimavertrag definiert zwei Grad als maximale, noch tolerable Grenze, die einzuhalten ist. Derzeitige CO2-Trends lassen allerdings einen Drei-Grad-Pfad erwarten.

Andere Klimaelemente sind viel schneller

Das Forschungsteam führte eine Reihe von Simulationen mit zwei verschiedenen Eisschild-Computermodellen durch. In jedem Modelllauf stiegen die globalen Durchschnittstemperaturen bis 2100 auf Werte zwischen 1,5 und 6,5 Grad über das vorindustrielle Niveau. Danach sanken die Temperaturen allmählich wieder über verschiedene Zeiträume, nämlich binnen 100 bis 10.000 Jahren.

Das könnte erreicht werden, indem der Atmosphäre wieder CO2 entzogen wird – etwa durch großflächige Aufforstung oder durch Technologien zur CO2-Abscheidung und -Speicherung respektive -Nutzung, im Fachjargon CCS und CCU.

Die Studie bestätigte frühere Forschungsergebnisse, wonach die langfristige kritische Temperaturschwelle für ein nahezu komplettes Abschmelzen zwischen 1,7 und 2,3 Grad liegt. Das heißt: Um einen Kipppunkt und damit den massiven Anstieg des Meeresspiegels sicher zu vermeiden, müsste die Erwärmung langfristig unter 1,7 Grad liegen.

Trotz der neuen Erkenntnisse betonen Bochow und Co ausdrücklich, die langsame Reaktion des Grönland-Eisschildes dürfe nicht so interpretiert werden, dass der Kampf gegen den Klimawandel nicht mehr so dringlich sei. Eine echte "Entwarnung" sähe anders aus.

In den Simulationen zeigte sich nämlich, dass auch eine nur vorübergehende Überschreitung der 1,7- bis 2,3 Grad-Schwelle immer noch zu einem Meeresspiegelanstieg von über einem Meter führen kann. Das würde bereits viele Siedlungsgebiete gefährden.

Mitautor Niklas Boers von der TU München mahnte zudem: "Der Grönländische Eisschild ist nur ein kleiner Teil des Bildes. Es gibt noch viele andere negative Folgen des vom Menschen verursachten Klimawandels, die auf uns zukommen könnten, wenn wir nicht rechtzeitig handeln."

Tatsächlich gibt es über ein Dutzend Kippelemente, die sich binnen viel kürzerer Fristen verändern können oder sogar zu abrupten, nicht wieder einholbaren Veränderungen neigen – zum Beispiel Regenwälder, Wind- und Niederschlagsmuster oder Meeresströmungssysteme.

Anzeige