Eisberg in Grönland
So stellt man sich die Eisschmelze auf Grönland vor: Ein Eisberg, der aufs offene Meer hinaustreibt. Nun müssen wir unser Bild wohl korrigieren. (Foto: Ohio State University)

Eine neue Studie rüttelt am Bild, das in der Öffentlichkeit über die Eisschmelze auf Grönland vorherrschte. Lange hatte man angenommen, dass der Großteil des Masseverlustes von den großen Gletschern kommt, die das Eis in die Ozeane schieben.

Bei der Auswertung von Satelliten- und GPS-Daten konnten US-Wissenschaftler aber nun zeigen, dass die größten dauerhaften Eisverluste ausgerechnet aus einem Gebiet in Grönland stammen, wo es kaum größere Gletscher gibt – und zwar im Südwesten der Insel. Wenn der Großteil der Eisschmelze aber nicht von den Gletschern herrührt, was ist dann die Ursache?

Die Wissenschaftler um Michael Bevis von der School of Earth Sciences der Ohio State University haben nun ein Ergebnis präsentiert, das Anfang der Woche im Fachblatt PNAS erschienen ist. Der Studie zufolge strömen im Sommer große Flüsse in die Ozeane, gespeist aus dem Schmelzwasser aus den Gebirgen im Landesinneren.

"Wir haben ein weiteres ernsthaftes Problem"

"Wir wussten, dass wir ein großes Problem mit dem zunehmenden Schmelzwasserabfluss von einigen großen Auslassgletschern hatten," sagt Bevis. "Aber jetzt erkennen wir ein weiteres ernsthaftes Problem: In zunehmendem Maße werden große Eismassen als Schmelzwasser austreten – in Form von Flüssen, die ins Meer fließen."

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass das Eis auf Grönland deutlich schneller schmilzt als bislang angenommen. Im Jahr 2012 hatte der jährliche Eisverlust 400 Milliarden Tonnen erreicht – eine Vervierfachung der Rate seit 2003.

Nach einer Pause in den Jahren 2013 und 2014 nahm die Eisschmelze wieder an Fahrt auf. Jährlich 280 Milliarden Tonnen Grönland-Eis sind den Daten zufolge zwischen 2002 und 2016 ins Meer gelangt, was einem zusätzlichen Meeresspiegelanstieg von knapp 0,8 Millimetern pro Jahr entspricht.

Klimamodelle auf dem Prüfstand

Eine Konsequenz aus den Forschungsergebnissen: Die Klimamodelle müssen mit den neuen Zahlen gefüttert werden. "Die Klimamodelle zeigten etwas schwächere Eisverluste, als wir in der Realität beobachtet haben", sagt Ingo Sasgen vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven. "Die Wirklichkeit läuft also den Klimamodellen davon."

Die Forscher können mit einem Trick überprüfen, ob die Klimamodelle richtig funktionieren: Sie lassen sie einfach die Vergangenheit simulieren – und vergleichen die Ergebnisse mit den tatsächlichen Beobachtungen. Hindcast nennt man dieses Testverfahren.

Für die zweijährige Schmelzpause interessierten sich die Forscher besonders. Sie machten dafür vor allem ein Wetterphänomen verantwortlich – die Nordatlantische Oszillation. Diese schickt in regelmäßigen Zeitabschnitten warme Luftmassen nach Westgrönland und sorgt für Tauwetter.

"Diese Schwankungen sind schon immer passiert", sagt Bevis. Bislang seien die Grundtemperaturen aber so kalt gewesen, dass das Wetterphänomen nur wenige Auswirkungen gehabt habe. Warum aber verursachen sie gerade jetzt diese massive Eisschmelze?

Bevis hat dafür eine Erklärung: "Die Atmosphäre ist heute schon eine Stufe wärmer und die vorübergehende Erwärmung, die durch die Nordatlantische Oszillation angetrieben wurde, setzt sich noch einmal auf die langfristigere globale Erwärmung drauf."

"Es gibt kein Zurück mehr"

Die Konsequenz gibt ihm zu denken: Durch den Klimawandel könnte Grönland bereits kurz vor dem Kipppunkt stehen. Die Nordatlantische Oszillation könnte die Sommertemperaturen bereits heute für bestimmte Zeiten über diese kritische Schwelle drücken.

"Wir werden auf absehbare Zeit einen immer schnelleren Meeresspiegelanstieg erleben", sagt Bevis. "Sobald wir den Wendepunkt erreicht haben, ist die einzige Frage: Wie schlimm wird es?"

Dann bleibe nur noch, sich anzupassen und die Erderwärmung so weit es geht einzudämmen, um das Tempo der Schmelze zu drosseln. "Um den Effekt ganz zu stoppen, ist es dann zu spät", sagt Bevis.

"Das grönländische Inlandeis wird – das ist jetzt nicht mehr umstritten – in den kommenden Jahrhunderten weiter abschmelzen", sagt der Physiker und Meteorologe Hartmut Graßl. "Die Klimaschutzpolitik kann in den kommenden Jahrzehnten und wenigen Jahrhunderten nur noch dämpfend wirken."

Redaktioneller Hinweis: Hartmut Graßl ist Kuratoriumsmitglied von Klimareporter°

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