Porträtaufnahme von Tim Meyer.
Tim Meyer. (Foto: Naturstrom)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Tim Meyer, Vorstand beim Öko-Energieversorger Naturstrom.

Klimareporter°: Herr Meyer, Deutschlands Klimapolitik hat sich verbessert. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls der Klimaschutz-Index von Germanwatch und New Climate Institute. Das liegt vor allem am Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr.

Bei den erneuerbaren Energien liegt Norwegen vorn, Deutschland nur im Mittelfeld. Was kann Deutschland von Norwegen lernen?

Tim Meyer: Es ist erschreckend, dass Deutschland beim Klimaschutz erst vom höchsten Gericht zum Jagen getragen werden muss. Gleichzeitig sind das Karlsruher Urteil und das nachgebesserte Klimaschutzgesetz zunächst nur Rahmen, die mit Leben, mit konkreten Maßnahmen gefüllt werden müssen.

Wir haben ja auch ein Pariser Klimaabkommen unterzeichnet und bisher wenig Aufhebens um die absehbare Verfehlung dieser Verpflichtung gemacht. Das müssen und können wir in Deutschland viel besser machen: als Kombination der besten eigenen Ideen mit denen anderer Länder.

Norwegen taugt dabei allerdings nur bedingt als Vorbild, weil es ganz andere Voraussetzungen hat. Durch die vielen Wasserkraftwerke ist der Ökostromanteil dort traditionell viel höher als bei uns, weshalb auch Technologien zur Sektorenkopplung einfacher eingesetzt werden können.

Das ist sicherlich auch ein Grund, weswegen Norwegen im Mobilitätsbereich wirklich beispielgebend ist: Das Land hat schon lange den Fokus weg vom Verbrennungsmotor verschoben und weist den höchsten Elektroautoanteil weltweit auf. Aber die Fjorde können wir hier nicht nachbauen.

Deutschland muss stattdessen die heimischen Erneuerbaren-Potenziale viel stärker nutzen, also vor allem Energie aus Wind und Sonne. Norwegen baut zwar zusätzlich zu den Wasserkraftwerken auch die Windkraft deutlich aus– das muss hierzulande aber wegen der viel dichteren Besiedlung einfach anders organisiert werden.

Ein konkreteres Vorbild für die Energiewende in Deutschland sehe ich eher im Gesamtsieger des Klimaschutzrankings: Dänemark. Sowohl der schnelle Windausbau unter Einbezug der Kommunen, die dann auch klar davon profitieren, als auch die guten Fortschritte bei der Wärmewende sind hier nachahmenswert.

Und bei "Kopenhagen" denken heute weltweit wohl mindestens so viele Menschen an die gelungene Verkehrswende wie an das Wahrzeichen der kleinen Meerjungfrau.

Rund 30 Staaten bekennen sich beim Klimagipfel in Glasgow zu einem Enddatum für Verbrenner-Fahrzeuge – Deutschland ist nicht dabei. Die alte wie auch die vermutlich neue Koalition wollen sich den Weg über synthetische Kraftstoffe offenhalten. Ist das plausibel?

Der noch geschäftsführend amtierende Verkehrsminister Scheuer zeigt hier einmal mehr, weswegen wir so dringend eine neue Bundesregierung brauchen. Auf den letzten Metern seines Amtes verzögert er noch einmal den notwendigen Strukturwandel in der Mobilität und zündet zum vermeintlichen Schutz der Autoindustrie eine Nebelkerze.

Denn bei der Erklärung geht es ja nicht um alle Fahrzeuge, sondern "nur" um Pkw und leichte Nutzfahrzeuge. In diesen Anwendungen jetzt Klarheit zu schaffen, halte ich für richtig und hilft, alle Kräfte auf elektrisches Fahren auszurichten.

Diesen Kurs haben viele Länder und Autobauer zu Recht bereits eingeschlagen und ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie neue Kapazitäten eindeutig in Richtung E-Mobilität umgelenkt. Hätte das Autoland Deutschland die Glasgower Erklärung unterstützt und damit diese Richtung bekräftigt, hatte das weltweit sicherlich große Strahlkraft gehabt. Die Chance wurde vertan.

Für den schweren Güterverkehr kann und sollte man hingegen die Option für synthetische Kraftstoffe offenhalten. Das belegen viele Studien. Um dieses Segment geht es aber wie gesagt in der Erklärung gar nicht.

Und dann fehlt bei diesem Thema natürlich noch das "Ceterum censeo" der Verkehrswende: Allein damit, den individualisierten Verkehr auf Elektroautos umzustellen, werden wir die Emissions- und Raumprobleme des Verkehrs nicht in den Griff bekommen.

Stattdessen brauchen wir endlich eine ganzheitliche Mobilitätswende mit alternativen Fahrzeugen wie E-Lastenrädern und innovativen Nutzungsmodellen wie Sharing-Lösungen – und das muss sich unter einer neuen Bundesregierung auch im Elektromobilitäts-Förderregime widerspiegeln.

Am Mittwoch haben Aktivist:innen von Fridays for Future den deutschen Pavillon in Glasgow besetzt. Sie fordern die Ampel-Parteien auf, die Klimapolitik am 1,5-Grad-Ziel auszurichten. Was braucht es für 1,5 Grad?

Als Erstes brauchen wir ein grundsätzlich neues Denken und den Bruch mit alten Lehren. Es geht um nicht weniger als einen Paradigmenwechsel bei der Bewertung und Organisation weltweiter wirtschaftlicher Aktivität.

Dann brauchen wir viel Mut, dies gegen die alten und mächtigen Kapital- und Machtstrukturen durchzusetzen, und gleichzeitig attraktive Ideen, um die alten Kräfte an den Chancen der Zukunft zu beteiligen. Klimaschutz und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels müssen ab sofort Leitlinie bei allen politischen Entscheidungen werden. Nicht einschränkend gedacht, sondern als positive Vision für eine bessere Zukunft.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Überrascht hat mich sowohl die Nachricht, dass die globalen CO2-Emissionen im letzten Jahrzehnt auf relativ konstantem Niveau geblieben sind, als auch, wie wenig diese Neuigkeit öffentlich wahrgenommen wurde. Breit debattiert wurde lediglich über die jährliche Veränderung der Treibhausgasbilanz: Nach dem Rückgang im Corona-Jahr 2020 steigen die Emissionen wieder auf Vor-Pandemie-Niveau.

Die mittelfristige Perspektive fand jedoch kaum Beachtung. Dabei ist dies doch eine durchaus bemerkenswerte Entwicklung, die zeigt, dass die weltweiten Klimaschutzbemühungen zu wirken beginnen. Viel zu langsam, aber eben immerhin nicht ganz ohne Effekt. Und es wurde deutlich, dass Emissionsminderungen jenseits des Energiesektors, zum Beispiel durch die Mäßigung des Raubbaus an den Wäldern, wichtige Beiträge zum Klimaschutz leisten können.

Ist das alles ein Grund zum Jubeln? Definitiv nicht. Schließlich hat die Nutzung fossiler Energieträger trotzdem weiter zugenommen – wenn auch langsamer –, und auch die Zeichen aus Glasgow sind absolut unzureichend. Ich merke aber in vielen Gesprächen und auch an mir persönlich, dass wir aufpassen müssen, den Kampf für das 1,5-Grad-Ziel nicht als völlig aussichtslos abzuschreiben. Dabei kann diese Nachricht helfen.

Fragen: Sandra Kirchner

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