Einige aus dem Verein Solar Powers stehen auf dem Dach, sind kaum zu sehen zwischen ausgedehnten Photovoltaik-Flächen.
Solarprojekte wie dieses auf dem Dach der Berliner TU-Bibliothek mussten bisher mühsam durchgekämpft werden – jetzt könnte es endlich einen großen Schub geben. (Foto: Jörg Farys/​Die Projektoren)

Frühling 2021 und es liegt etwas in der Luft – spüren Sie es auch? Wenn es um Klimaschutz ging, um die Energiewende oder, noch größer, um die Veränderung unserer Wirtschafts- und Lebensweise, habe ich die letzten Jahre als bleiern empfunden und als immer schwerer zu ertragen.

Klar gab es Fortschritte, auch wichtige: 50 Prozent erneuerbarer Strom in Deutschland im Jahr 2020 – was für ein Meilenstein! Doch selbst solche Erfolge nahmen sich viel zu klein aus im großen Bild.

Von einer kraft- und ideenlosen Bundespolitik, die gedanklich partout in einer längst überholten Wirklichkeit weiterleben wollte, über die post-faktische Realitätsverweigerung eines Donald Trump und verwandter Vergangenheitsprediger bis zu einem weltweiten Stillhaltewettbewerb: Klimapolitisch haben wir ein weiteres verlorenes Jahrzehnt durchlebt.

Oder besser: durchlitten. Denn je stärker die bereits eintretenden Klimaveränderungen sichtbar wurden und je konsequenter wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso ignoriert wurden wie die für ihre Zukunft kämpfenden Schülerinnen und Schüler sowie die wirtschaftlichen Chancen des Wandels, desto unerträglicher wurde die eigene Beschäftigung mit der wirtschafts- und klimapolitischen Realität für viele.

Auch für mich persönlich. Ich habe mich dabei ertappt, dass sich unter die Neugier und Lust auf positive Zukunftsgestaltung immer häufiger Trotz und Frust gemischt haben.

Joe Biden, Annalena Baerbock – und die Groko-Parteien

Und jetzt? Stehen wir an einem historischen Wendepunkt. Kleiner mache ich es nicht. Denn einerseits bin ich davon tatsächlich überzeugt. Und andererseits halte ich es für wichtig, dass wir den Mut haben, daran zu glauben.

Nur wenn das Neue als selbstverständlich erscheint, machen sich auch bisherige Zweifler auf den Weg. Vielleicht zunächst widerwillig und nicht unbedingt gut gelaunt, aber das Unvermeidliche akzeptierend. Und wer partout stehen bleiben möchte, tut das eben und endet dann ziemlich allein.

Dass das wirkt, sehen wir schon jetzt: Gleich nach Amtsübernahme hat der neue Präsident Joe Biden die Rückkehr der USA ins Pariser Klimaschutzabkommen in die Wege geleitet. Im April dann seine Klimaschutzkonferenz mit 40 Staats- und Regierungschefs. Bemerkenswert war nicht nur die Ankündigung einer ambitionierten Selbstverpflichtung der USA, ihre CO2-Emissionen bis 2030 um 50 Prozent zu reduzieren.

Porträtaufnahme von Tim Meyer.
Foto: Naturstrom

Tim Meyer

hat Elektro­technik studiert und am Fraunhofer-Institut für Solare Energie­systeme promoviert. Nach Tätigkeiten in der Fraunhofer-Gesellschaft, der Industrie und als Gründer im Solarstrom­markt kam er 2015 zu Naturstrom. Heute ist er Vorstand bei dem Öko-Energie­versorger und Mitglied des Herausgeberrats von Klimareporter°.

Bemerkenswert war auch zu sehen, was die neue Glaubwürdigkeit auslöst. Die Fassade des gegenseitigen Taktierens und Um-die-Wette-Bremsens der anderen Teilnehmerländer hat unmittelbar Risse bekommen. Wenn die Großen vorangehen, will keiner den Anschluss verlieren. Und wenn alle das Tempo erhöhen, kann Dynamik entstehen.

Dasselbe Muster in Deutschland: Allein die grüne Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock hat das Spiel verändert. Die Aufbruchsignale, die sie und ihre Partei senden, verbunden mit starken Umfragewerten, machen auch den anderen Parteien klar: Umwelt- und Klimaschutz sind als Themen gekommen, um zu bleiben. Große Teile der Gesellschaft sehnen sich regelrecht nach Veränderung.

Immer deutlicher sind nun auch von der SPD und aus der Union neue Töne zu hören. Teils sicherlich aus purer Sorge, abgehängt zu werden, und bei einigen auch aus reinem Opportunismus. Teils aber auch, weil in den Parteien neue Akteure Gehör finden, die tatsächlich für eine Öffnung, Veränderung und neues Denken stehen. Allein neue Stimmungen schaffen schon neue Möglichkeiten.

Apropos Union: Wenn ich von einem historischen Wendepunkt in Sachen Klimaschutz spreche, muss ich es wohl einen Treppenwitz der Geschichte nennen, dass zwei der entscheidenden und einflussreichsten Bremser der deutschen Klimapolitik sich selbst aufs Abstellgleis befördert haben.

Zugegeben, Joachim Pfeiffer aus der CDU und Georg Nüßlein aus der CSU wurden nicht weggespült von neuen parteiinternen Strömungen. Es brauchte Korruptionsskandale wie den um die Beschaffung von Corona-Masken. Aber kaum haben die beiden ihre Stühle geräumt, sind auch bundespolitisch wieder kleine Schritte möglich.

Es ist kein Zufall, dass plötzlich mit verändertem Personal zusätzliche Photovoltaik-Ausschreibungsmengen für 2022 beschlossen werden können. Klar, das ist zu wenig und zu kurz gedacht. Aber es zeigt, dass auch etwas in Bewegung geraten ist.

Plötzlich wollen alle dabei sein. Gut so!

Ich bleibe also dabei: Der große Treck setzt sich endlich in Bewegung. Und wenn er das tut, wollen plötzlich die meisten dabei sein.

Wie gemalt fügt sich in dieses Bild das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz ein. Das Gericht sieht die Freiheitsrechte der "zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden" durch die von ihnen angegriffenen Bestimmungen verletzt.

Das Urteil wird weit über das aktuelle Klimaschutzgesetz hinaus Wirkung erzielen. Denn die Botschaft ist klar: Zukunftsrechte müssen schon heute gewahrt werden. Langsam dürfte es daher auch den Letzten dämmern: Sich dem Aufbruch bei Energiewende und Klimaschutz zu entziehen hat keine Zukunft, ist einfach keine langfristige Machtoption mehr. Und keine fürs eigene Geschäft.

An dieser Stelle taugen dann wieder Teile der CDU als aktuelle Beispiele für potenzielles Zurückbleiben. Anders sind jedenfalls die ersten Einlassungen von Armin Laschet und von Friedrich Merz als erstem "festen Mannschaftsbestandteil" in Laschets Wahlkampfteam nicht zu interpretieren, man solle nach dem Urteil des Verfassungsgerichtes lieber nicht in Zahlenwettbewerbe eintreten und keine Schnellschüsse in Sachen Klimaschutz abgeben.

Aber wie gesagt, wenn der Treck loszieht, wird es um die Zurückgebliebenen einsam. Da inszeniert sich Markus Söder lieber als neue Speerspitze der Bewegung und ruft ein CO2-freies Bayern für 2040 aus. Das ist nicht gerade glaubwürdig, zeigt aber, wie dynamisch sich auch selbst auferlegte Denk- und Sprechverbote verflüchtigen können.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrates in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Natürlich ist das alles kein Selbstgänger. Auch müssen wir aufpassen, dass sich nicht Dinosaurier unter grünen Deckmäntelchen verstecken – Beispiel "blauer Wasserstoff".

Und wir müssen bereit sein, uns selbst weiterzuentwickeln. Denn ein Wendepunkt bedeutet nicht nur Veränderung für die anderen, also für diejenigen, die bisher noch den alten Kurs fahren wollten. Er verlangt auch von uns ein Um- und Weiterdenken.

Wir dürfen uns nicht sperren, wenn der große Treck uns jetzt tatsächlich folgt und dabei Pfade benutzt, die viele Pioniere gegen Widerstände angelegt haben. Oder Genugtuung fordern, wenn Dinge plötzlich für selbstverständlich gehalten werden, für die wir vor einigen Jahren noch ausgelacht wurden.

Doch all das werden wir hinbekommen. An die vielen "Aber" will ich jetzt jedenfalls nicht denken. Konzentrieren wir uns darauf, die historische Chance zu ergreifen und die lange vorgezeichneten Wege einfach zu beschreiten. Nur so wird Hoffnung Realität. Nur so funktionieren selbsterfüllende Prophezeiungen.

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