Vizekanzler Olaf Scholz steht mit SMA-Persönlichkeiten auf dem neu eingeweihten Platz der Energiewende.
Olaf Scholz (r.) besuchte kurz vor der Wahl eine Firma für dezentrale Solartechnik: "Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien erheblich beschleunigen und das Stromnetz zügig ausbauen" – das klingt noch nicht unbedingt nach Vor-Ort-Energie. (Foto: SMA Solar)

Die Wahl zum Bundestag ist gelaufen. Tag für Tag wird sich klarer herauskristallisieren, wie die neue Bundesregierung aussehen wird. Und tatsächlich – es gibt die wahrhaftige Chance für einen Neuanfang, nach dem sich so viele Menschen aus der Klimabewegung und Begleiter:innen der Energiewende sehnen.

16 Jahre Merkel, acht Jahre Groko – für viele war das eine ermüdende und oft auch zermürbende Zeit. Nun könnte es endlich wieder losgehen mit einer progressiven Energiepolitik, die Dinge anpackt, anstatt sie zu verschleppen.

Natürlich geben weder die Perspektive auf eine Ampelkoalition noch auf eine Jamaika-Regierung Grund zur Euphorie. Die Analysen der Wahlprogramme zeigten im Vorfeld ein eher pessimistisches Bild. Viele Parteien blieben jenseits hübscher Überschriften vage. Ideen, wie der Reformstau aufgelöst werden kann, waren rar gesät.

Fakt ist aber auch, dass die für eine Regierung nun infrage kommenden Parteien für sich reklamieren, die Pariser Klimaziele erreichen zu wollen. Zudem wird es verfassungsrechtlich nicht mehr möglich sein, einfach von diesem Pfad abzuweichen. Und schließlich war 2021 Klima das Topthema der politischen Gesprächsrunden.

Grund genug also, den Aufbruch anzupacken. Das erneuerbare Energiesystem darf nun gestaltet werden. Das umfasst viele Baustellen – vom beschleunigten Windausbau über den Einsatz der Speicher bis hin zum Photovoltaik-Boom.

Neue Regeln für den neuen Leitmarkt

Für lokale Energielösungen wird es viele Veränderungen geben müssen. Für den Strommarkt, der aufgrund der nötigen Elektrifizierung von Wärme und Verkehr künftig zum Leitmarkt wird, ist diese subsidiäre Ebene bislang ein Fremdkörper im System gewesen. Das wird sich ändern müssen.

Über zwei Millionen Solaranlagen, dezentrale Speicher, immer mehr Wärmepumpen und Elektroautos gibt es. Diese neuen technischen Möglichkeiten schreien förmlich nach einem neuen Verständnis der Stromversorgung. Das erneuerbare Energiesystem, auf das wir in den kommenden zwei Jahrzehnten zusteuern, wird stärker darauf setzen müssen, Strombedarfe schon vor Ort zu koppeln.

Porträtaufnahme von Fabian Zuber.
Foto: BBEn

Fabian Zuber

ist Berater und Unter­nehmer im Bereich der Energie­wende. Der studierte Kultur­wirt, Mit­gründer und Mit­arbeiter von Bürger­energie­unternehmen und -verbänden sowie Referent von Bundes­tags­abgeordneten ist seit 2018 Energie­system­wende-Projekt­leiter bei der Reiner Lemoine Stiftung.

Heute ist alles aus jahrzehntelanger Gewohnheit noch darauf ausgerichtet, dass große Kraftwerke irgendwo im Land Strom produzieren, kupferplattenähnliche Netze den Strom genauso wie bei der Briefpost zum Einheitspreis transportieren – egal, wie weit die Kilowattstunde unterwegs ist. Und am Ende der Leitung hängen passive Verbraucher, die brav den Steckdosenstrom konsumieren.

Im Wärmemarkt war dies schon immer anders. Der Ölkessel oder die Gasetagenheizung sind der Inbegriff einer dezentralen Versorgung, bei der vom Einfamilienhausbesitzer bis zur Wohnbaugesellschaft einigermaßen frei geplant und entschieden wird, wie die Gebäude warm werden.

Beim Strom kannten wir vor allem den zentralisierten Versorgungsmarkt. Schon im Ausland bewährte "Behind the Meter"-Konzepte für angepasste Lösungen "hinter dem Zähler" werden auch in Deutschland in Form der Vor-Ort-Versorgung an Bedeutung gewinnen.

Vor-Ort-Ideen bei allen Parteien

Dieses Bewusstsein greift mehr und mehr. Energiesysteme vor Ort zu ermöglichen wird aus den unterschiedlichen politischen Denkrichtungen heraus immer attraktiver. Ansätze dazu finden sich in allen Programmen der nun um die Regierungsbildung buhlenden Parteien:

  • Sozialdemokraten engagieren sich für die Belange der kommunalen Stadtwerke sowie der Wohnungsbau- und Energiegenossenschaften, die den Bewohner:innen der Mietshäuser attraktive Angebote für eine klimaneutrale Versorgung machen wollen. Die SPD will dazu Investitionen in Quartierskonzepte staatlich fördern und die Energiewende vor Ort zu einer Win-win-Situation für alle machen, indem sie die gemeinschaftliche Eigenversorgung stärkt.
  • Die Union möchte hingegen, um Effizienz zu gewinnen, auf technologische Entwicklungen und Innovationen setzen und denkt hierbei an Quartiersansätze, Wärmeeffizienz oder auch an die Digitalisierung sowie energetische Baustandards. All das sind auch Bausteine dezentraler Versorgungssysteme.
  • Die Liberalen möchten mehr Erfindergeist ermöglichen und Klimaschutz marktwirtschaftlich erreichen. Und sie wollen das Energierecht entbürokratisieren. Genau darum geht es auch bei der Vor-Ort-Versorgung: Weniger Regeln hinterm Zähler, die optimalen Lösungen für die klimaschonende Energieversorgung den Akteuren überlassen, ohne Innovationen durch überbordende Regelungen zu gängeln.
  • Und aus einer grünen Argumentation heraus eröffnet die dezentrale Energieversorgung Chancen, den Photovoltaik-Ausbau massiv zu beschleunigen und auch die Dekarbonisierung von Wärme und Verkehr durch die "Verzahnung dieser Bereiche" voranzubringen. Zudem bietet die Vor-Ort-Versorgung Optionen, Bürgerinnen und Bürger als Treiber der Energiewende einzubinden und die Akzeptanz zu erhöhen.

All das lässt sich – sofern es die kommenden neuen Koalitionäre wollen – auf eine Formel bringen: Die Vor-Ort-Versorgung stärken.

Bleibt zu hoffen, dass das auch die Autorinnen und Autoren des nächsten Koalitionsvertrags als gemeinsamen Nenner erkennen und den Weg frei machen für die Innovationspotenziale klimaneutraler Vor-Ort-Lösungen.

Erneuerbare – neu denken!

Mit erneuerbaren Energien können Häuser, Quartiere, Städte und ländliche Regionen zu Selbstversorgern werden, wenn Erzeugung und Verbrauch, Speicher und Netze optimal zusammenwirken. Dieser Vor-Ort-Welt der Energie stehen althergebrachte Strukturen und Regeln entgegen. Deshalb widmet sich Klimareporter° in einer Serie der Frage, wie Erneuerbare neu gedacht werden müssen.

Klar ist jedenfalls: Es wird einer starken politischen Führung brauchen, die Lust hat und Lust macht auf Veränderung. Aus den Ministerien und Behörden selbst ist ein Aufbruch kaum zu erwarten.

Alte Denkmuster aus der Zeit des konventionellen Energiesystems sind hier noch zu stark verankert. Die Hoffnung liegt daher in einer politischen Kraft, die Verantwortung übernehmen möchte, um die Energieversorgung sektorenübergreifend fit zu machen für das Zeitalter der klimaneutralen Innovationen.

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