Dreistöckiges Wohnhaus in Hamburg-Lokstedt mit Photovoltaik auf dem Dach.
Neubauprojekt in Hamburg. (Foto: Naturstrom)

Dass der Klimawandel nicht auf uns wartet, dringt so langsam auch in die letzten Erkenntnisritzen von Politik, Unternehmen und Gesellschaft. Selbst für das noch nicht ausreichende Ziel, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen, bleiben uns nur 24 Jahre Zeit.

Gerade in unseren Gebäuden muss die Transformation angesichts des schleppenden Wandels und des großen Einflusses auf unser CO2-Budget immens beschleunigt werden. Dafür müssen wir erneuerbaren Strom auch in die Wärme bringen – und in die Mobilität.

Die Gretchenfrage der Energiewende ist also: Wie bekommen wir zehntausende Geschosswohnbauten und Gewerbebauten und den Energieverbrauch ihrer Nutzer klimaneutral? Wie setzen wir eine dezentrale Sektorenkopplung um, also die Kopplung und Optimierung von Strom, Wärme und Mobilität unmittelbar vor Ort?

An der Technologie fehlt es nicht. Bereits heute können wir größere Gebäude über Wärmepumpen mit Umweltwärme versorgen. Der dafür notwendige Strom kommt anteilig aus Photovoltaik vor Ort. Die Stromerzeugung wird mit der Ladeinfrastruktur für Elektroautos verknüpft und auch das Wärmesystem kann mit seinen thermischen Massen und Pufferspeichern als Flexibilität für die Strombereitstellung dienen.

Dass wir gerade hier in der dezentralen Energiewende seit Jahren mehr oder weniger auf der Stelle treten, liegt vor allem daran, dass das Thema kompliziert und auch verstrickt ist. Projektentwickler, Planer und Energieunternehmen, die solche Projekte umsetzen, müssen sich durch ein historisch gewachsenes, hyperkomplexes Dickicht aus Gesetzen und Verordnungen kämpfen – sowohl aus dem Gebäudesektor als auch aus der Energiewirtschaft. Geregelt ist hier jedes Detail des Einsatzes der Technologien.

Kurvendiagramm: Der Erneuerbaren-Anteil steigt im Stromsektor stetig an, bei Wärme und Verkehr tut sich seit 2007 wenig bis nichts.
Wir haben gut 45 Prozent Ökostrom, ein leichter Anstieg zum Vorjahr. Im Wärmesektor machen erneuerbare Energien erst 15 Prozent aus, im Verkehr kaum mehr als sieben Prozent. (Grafik: AEE)

Im Grunde versucht die Regulierung bis heute, zentral das "Wie" lokaler Energiesysteme vorzugeben. Wie also der Einsatz eines Blockheizkraftwerkes, einer Wärmepumpe, eines Speichers und so weiter genau zu erfolgen hat, welchen Wert eine Kilowattstunde in einem solchen System hat. Da muss gemessen und abgerechnet werden.

Zugleich widersprechen sich die unzähligen Einzelanreize und Regelungen oft oder reißen erhebliche Interpretationsspielräume und damit rechtliche Risiken auf. Hingegen wird das eigentliche Ziel, eine Vor-Ort-Versorgung als Ganzes möglichst kostengünstig und klimaneutral zu sichern, nirgendwo formuliert und reguliert.

Auf die hergebrachte Denkweise – gleichermaßen zentral wie kleinteilig – ist das Ziel einer ganzheitlichen Vor-Ort-Versorgung auch nicht erreichbar. Jedes Gebäude und jeder Kunde hat spezifische Anforderungen. Diese Vielfalt ist auf dem bisherigen Wege nicht beherrschbar.

Die "Kupferplatte" hat ausgedient

Gute Ideen und Geschäftsmodelle scheitern daher regelmäßig an der beschriebenen gesetzgeberischen Vereinzelung von Themen und zentral gedachten Detailregelungen.

Dazu kommt eine strukturelle Diskrepanz gerade zwischen den gesetzlichen Regeln im Gebäude- und Wärmebereich auf der einen sowie dem Strombereich und der Energiedatenerfassung auf der anderen Seite. Bei der Wärme ist es eine Selbstverständlichkeit, mehrere Gebäude und verschiedene Technologien als System zu betrachten und sogar zu Nahwärmenetzen zusammenzuschließen. Vorgaben beispielsweise in Bezug auf den Klimaschutz werden auf einer Systemebene gemacht, etwa über den Primärenergiefaktor.

Im Strombereich sind solche Bündelungen und systemischen Ansätze nur in wenigen Sonderfällen wie dem solaren Mieterstrom und nur unter kostspieligen Auflagen zulässig und bleiben daher Nischenlösungen.

Heute folgt jede Komponente im Energiesystem einer eigenen, zentral gedachten Logik. Die Gestaltung von Vor-Ort-Systemen ist zu komplex.
Heute folgt jede Komponente im Energiesystem einer eigenen, zentral gedachten Logik. Die Gestaltung von Vor-Ort-Systemen ist zu komplex. (Grafik: Naturstrom)

Das Kernproblem ist: Das öffentliche Stromnetz reicht regulatorisch bis zum Stromzähler jeder einzelnen Partei eines Mehrfamilienhauses oder Gewerbegebäudes. Eine gedankliche oder gar gesetzliche Zwischenebene wie ein Gebäude oder ein Quartier gibt es nicht.

Dahinter steckt das alte Bild der "Kupferplatte". Das stellt ein beliebig stark ausgebautes Stromnetz dar, das dem Handel mit Strom in ganz Deutschland keinerlei Beschränkung auferlegt – und so auch keinerlei Anreiz bietet, Strombedarf und Stromverbrauch zuerst so weit wie möglich lokal zu optimieren und dann erst auf das regionale und überregionale Netz zuzugreifen.

In einer Energiewelt, in der Ökostrom, Wärme und Mobilität gekoppelt sind, macht der Vorrang der "Kupferplatte", also des Stromnetzes, jedoch keinen Sinn mehr: Der Netzbetreiber als bisher zentraler Steuerungsakteur kennt weder die Größe und Temperaturschichtung lokaler Pufferspeicher im Wärmesystem noch weiß er, wie flexibel Einsatzzeiten von Wärmepumpen oder das Laden von E-Autos verschoben werden können.

Diese Informationen liegen vor Ort vor, bei den Nutzern und Betreibern konkreter Gebäude und Energiesysteme. Diese könnten entlang realer Anforderungen und Möglichkeiten entscheiden und handeln – und damit viel besser und effizienter sein als ein zentraler "Mastermind". Und zwar schon von der Planung der Gebäude und der mit ihnen verschmolzenen Energiesysteme über deren Errichtung bis zum langjährigen Betrieb.

Garantierte Gestaltungsspielräume in klaren Systemgrenzen

Was wir also brauchen, ist die Möglichkeit, Gebäude, Gewerbeeinheiten und andere räumlich klar umrissene Teile unseres Energiesystems als in sich geschlossen und systemisch gedachte "Vor-Ort-Systeme" zu betreiben.

Künftig werden Vor-Ort-Systeme vor allem über die Schnittstellen reguliert.
Künftig werden Vor-Ort-Systeme vor allem über die Schnittstellen reguliert. (Grafik: Naturstrom)

Was besser vor Ort entschieden und optimiert werden kann, wird vor Ort entschieden und optimiert. Was besser in einer höheren Systemebene, zum Beispiel in den Netzen, entschieden und optimiert werden kann, wird dort administriert.

An den Schnittstellen muss es dafür klare und auch harte Spielregeln zu den Rechten und Pflichten der Vor-Ort-Systeme geben. Dazu gehören Vorgaben für Systemstabilität und zur Prognose der eigenen Erzeugung und des Verbrauchs, eine kluge Struktur für Netzentgelte und -erlöse, Regeln für den Handel mit anderen Marktteilnehmern und anderes mehr.

In diesem klaren Rahmen wird dann nur noch das "Was" eines Gesamtgebäudes und -systems vor Ort angereizt und reguliert: CO2-Emissionen oder Primärenergiefaktoren, Transparenzauflagen und Verbraucherschutz vor allem.

Das "Wie", also über welche technischen Systeme und Betriebsweisen des Vor-Ort Systems die Energie optimal bereitgestellt werden kann, wird den Akteuren überlassen. Für das Innere des Vor-Ort-Systems – energiewirtschaftlich gesprochen "hinter dem Zähler" – werden nur noch Minimalstandards vorgegeben, etwa für Energieeffizienz oder auch in Form eines Verbots eindeutig unzeitgemäßer Technologien wie Ölheizungen.

Paradigmenwechsel für Energieversorgung vor Ort

Diese Vor-Ort-Welt ist ein Paradigmenwechsel für unser Energiesystem und die Energiewirtschaft. Es ist subsidiär gedacht, seine Gestaltung und Verantwortung vollzieht sich also "von unten nach oben".

Eine so vom Kopf auf die Füße gestellte Regulierung für Energiesysteme vor Ort ist in der Lage, den Markt von der heutigen Verstrickung im komplexen Regelungsdickicht zu befreien und neue unternehmerische Dynamik und Innovation zu entfachen. Markt und Wettbewerb würden sich weniger daran orientieren, hochkomplexe und oft widersprüchliche Regulierungsvorgaben zu erfüllen, sondern könnten Spielräume vor Ort nutzen, um neue Technologien und Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Fördermilliarden, die heute ausgelobt werden müssen, um trotz der regulatorischen Bremsklötze die Wärmewende zu beschleunigen, können eingespart und sinnvoller eingesetzt werden – beispielsweise für die Ausbildung und Umschulung tausender neuen Planer und Fachkräfte, die die Energiewende tatsächlich vor Ort gestalten.

Menschen und Unternehmen könnten sich endlich wieder stärker in ihrem eigenen Lebensumfeld in die Energiewende einbringen, sich direkt mit ihr identifizieren und von ihr profitieren. Dieses Mehr an Teilhabe ist auch entscheidend dafür, die Akzeptanz für die Energiewende als denkbar größte Infrastrukturmodernisierung aufrechtzuerhalten.

Porträtaufnahme von Tim Meyer.
Foto: Naturstrom

Tim Meyer

hat Elektro­technik studiert und am Fraunhofer-Institut für Solare Energie­systeme promoviert. Nach Tätigkeiten in der Fraunhofer-Gesellschaft, der Industrie und als Gründer im Solarstrom­markt kam er 2015 zu Naturstrom. Heute ist er Vorstand bei dem Öko-Energie­versorger und Mitglied des Herausgeberrats von Klimareporter°.

Klar ist aber auch: Vor-Ort-Systeme als Teil des gesamten Energiesystems werden auch klare Pflichten haben. Vor-Ort-Versorgung meint eben nicht nur eine erneuerbare und sektorengekoppelte, sondern auch eine systemverantwortliche Energieversorgung.

Jedes Gebäude, jede Gewerbeliegenschaft, jedes Quartier muss Teil eines stabilen, sicheren und kostengünstigen Gesamtsystems sein. Dazu müssen die lokalen Teilsysteme mehr Verantwortung für das Gesamtsystem übernehmen.

Eine so grundlegende Änderung energiewirtschaftlicher Regulierung wird nicht über Nacht gelingen. Kern und notwendiger Startpunkt der Entwicklung ist die lange aufgeschobene große Netzentgeltreform. Aber diese kann nur ein Anfang sein.

Eine interessante Möglichkeit eines schrittweisen Übergangs zum neuen Energiesystem kann darin bestehen, für ausgewählte Anwendungsfälle wie Quartiere Optionsrechte zu schaffen, also eine Wahlmöglichkeit, ob das Projekt in der bestehenden oder in einer neuen Regulierungslogik verwirklicht werden soll.

Aus einer Vielzahl solcher "Mini-Reallabore" könnten Unternehmen, Rechtsexperten und die Politik lernen und Geschäftsmodelle sowie Regulierung nachfeilen. Erst nach einer solchen Lernphase von einigen Jahren würde dann ein neues Regulierungsdesign für alle verpflichtend gelten können.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrates in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen. Der heutige Beitrag von Tim Meyer ist zugleich Auftakt für die Klimareporter°-Serie "Erneuerbare – neu denken!"

Diese Zeit kann und muss auch von Herstellern genutzt werden, um Planung, Installation und Betrieb technisch komplexer Systeme zu vereinfachen. Mit den in Deutschland vorhandenen Kapazitäten wird die erforderliche Modernisierung unserer Infrastruktur kaum zu bewältigen sein.

Komponenten und Systeme müssen einfacher werden und die Anforderungen an das Personal für Einbau und Inbetriebnahme müssen deutlich sinken. Mit moderner Software und Hilfsmitteln wie Augmented Reality sollte das möglich sein.

Allein dieser Ausblick zeigt: Vor Ort, in unseren Gebäuden und Heizungskellern, wird die Energiewelt bereits in wenigen Jahren deutlich anders aussehen.

Tim Meyer ist Koautor eines jetzt veröffentlichten Impulspapiers "Potenziale der Vor-Ort-Versorgung entfesseln" mit Hans-Martin Henning vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme und Fabian Zuber von der Reiner Lemoine Stiftung. Für die kommende Legislaturperiode wird darin ein Rahmen für Subsidiarität im Energiesystem vorgeschlagen. 

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