Klimareporter°: Herr Schafhausen, Sie waren dabei, als Deutschland seine ersten Schritte in der Klimapolitik machte – 25 Jahre später muss die Kanzlerin zugeben, dass die Klimaziele nicht zu schaffen sind. Es klafft eine Lücke von gut 160 Millionen Tonnen. Macht Sie das wütend?
Franzjosef Schafhausen: Emotionen bringen bei der Politikgestaltung in der Regel wenig. Es gab immer Hochs und Tiefs in der Klimapolitik. Von den Anfängen des deutschen Klimaschutzes im Jahr 1987 bis heute hatten wir Phasen, wo wir unser Ziel sogar übererfüllt haben. Jetzt erleben wir gerade, dass es schwieriger wird, die Ziele zu erreichen.
Ich hätte niemals so lange diesen Job im Umweltministerium machen können, wenn ich Pessimist gewesen wäre. Denn wenn Sie mir 1987 gesagt hätten, dass wir heute so weit gekommen sind, hätte ich es damals wahrscheinlich selbst nicht geglaubt.
Auch wenn es jetzt gerade sehr schwierig ist, halte ich die Klimaziele für richtig und auch für erreichbar. Selbst der Bundesverband der Deutschen Industrie hält die Klimaziele mittlerweile unter bestimmten Rahmenbedingungen für realistisch. Das will etwas heißen!
Es geht also nicht nur um das Versagen in der vergangenen Legislatur. Wo fingen die Probleme an?
Es gab immer massive Widerstände innerhalb der Bundesregierung, der Wirtschaft, aber auch den Gewerkschaften gegen eine wirkungsvolle Klimapolitik.
Gerade die IG Metall und die IG BCE haben hier ganze Arbeit geleistet und nie verstanden, dass es nicht um den Verlust von Arbeitsplätzen geht, sondern um eine Umstrukturierung und um die Zukunftsgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, mit der zusätzliche Jobs, Wachstum und Wohlstand geschaffen werden.
Leider blockieren die Gewerkschaften, sobald die Situation in der Energiewirtschaft schwierig wird. Und sie haben gute Chancen, wenn die Verbindung zur Politik besonders eng ist, wie etwa in der zurückliegenden Legislaturperiode.
Wann hat sich abgezeichnet, dass die heutigen Klimaziele nicht zu halten sind?
Seit 1990 gab es zwei Phasen der Klimapolitik. Von Anfang der 1990er Jahre bis 2005 haben wir ganz massiv Emissionen eingespart. Insgesamt wurden damals an die 270 Millionen Tonnen in diesen 15 Jahren reduziert.
Allerdings ist da auch der Niedergang der Industrie in den neuen Bundesländern miteingerechnet.
Die Umstellung von Braunkohle auf andere Energieträger hat sicherlich deutlich zur Minderung der Treibhausgase beigetragen. Allerdings weiß niemand genau, wie hoch dieser Beitrag wirklich war. Wir haben nie daraus einen Hehl gemacht, dass die deutsche Vereinigung auch zur Minderung von Klimagasen beigetragen hat.
Franzjosef Schafhausen
studierte an der Universität Köln Betriebs- und Volkswirtschaftslehre. Nach Tätigkeiten am dortigen Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut sowie beim Umweltbundesamt und im Bundesinnenministerium arbeitete er von 1987 bis 2016 für das Bundesumweltministerium und leitete dort zuletzt die Abteilung "Klimaschutzpolitik, Europa und Internationales". Seitdem ist er als wissenschaftlicher Berater und Politikexperte tätig.
Es gab noch andere Gründe: Zwar hatten wir durch wirtschaftliches Wachstum höhere Emissionen, aber wir haben es geschafft, dieses Wachstum zumindest teilweise vom Energieverbrauch zu entkoppeln. Das heißt: Sie brauchen immer weniger Energie für das Wirtschaftswachstum.
Zudem haben wir massive Effizienzverbesserungen in der Industrie, im Kleinverbrauch, aber auch in privaten Haushalten erreicht – nicht zu vergessen die Substitution von kohlenstoffhaltigen durch weniger kohlenstoffhaltige oder gar kohlenstofffreie Energieträger.
Aber diese Verbesserungen reichten dann irgendwann nicht mehr.
Ab 2005 wurden diese positiven Effekte schrittweise geringer. Das lag und liegt schlicht daran, dass weder der Verkehr noch die Landwirtschaft lieferten. Und auch die Energiewirtschaft hat zu wenig beigetragen.
Hinzu kam eine veränderte Bevölkerungsentwicklung, mit der in den 1990er Jahren noch niemand gerechnet hat. So gab es beispielsweise eine starke Zunahme von Single-Haushalten. Wenn man allein wohnt, dann verbraucht man viel mehr Energie, als wenn man sich die Wohnung teilt. Außerdem ist die Bevölkerung gewachsen und die Wirtschaft hat sich besser entwickelt als erwartet – was ja ein gutes Zeichen ist.
Das alles führte zu einem höheren Ausstoß an Treibhausgasen, der durch autonome und induzierte Trends nur teilweise ausgeglichen wurde. Von 2006 bis 2016 hat Deutschland zwar seine Emissionen immerhin um 70 Millionen Tonnen reduziert – das war jedoch sehr viel weniger als vorher.
Die Gründe dafür, dass die Bundeskanzlerin die Klimaziele heute absagen muss, liegen also schon über ein Jahrzehnt zurück?
Ja. Allerdings wurde unser erstes Klimaziel, nach dem zwischen 2008 und 2012 insgesamt 21 Prozent Treibhausgase gegenüber 1990 in Deutschland gemindert werden sollten, deutlich übererfüllt.
Die Probleme begannen erst danach, als einerseits beschlossen wurde, bis 2020 auf mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 zu gehen. Gleichzeitig hatten und haben wir bis heute einen ungebremsten Zuwachs im Verkehr, stärkeres Wirtschaftswachstum, eine veränderte Bevölkerungsstruktur und auch einen drastischen Anstieg des Nettostromexports.
Hinzu kam die Entscheidung, nach der Katastrophe von Fukushima aus der Atomkraft auszusteigen. Das klimaschutzpolitische Nahziel 2020 rückte damit Monat für Monat und Jahr für Jahr immer weiter weg.
Hat damals niemand über die Folgen nachgedacht?
Als wir 2010 die Klimaziele festgelegt haben, war klar, dass die Laufzeiten für die Atomkraft verlängert werden. Dann kam die Katastrophe von Fukushima und es wurde beschlossen, bis 2022 alle Atommeiler abzuschalten. Dann hätte man überlegen müssen, was das eigentlich für die Klimaschutzziele bedeutet: Man hätte die klimaschutzpolitischen Anstrengungen schon damals verstärken müssen.
Der Klimaaktionsplan, der die aktuellen Klimaziele bis 2020 festlegt, wurde jedoch erst im Dezember 2014 beschlossen: Hat man diese Lücke nicht kommen sehen?
Doch. Schon damals sagten uns alle seriösen Abschätzungen, dass wir es ohne zusätzliche Maßnahmen nicht schaffen werden. Allen guten Absichten und Entscheidungen des Kabinetts zum Trotz ist beispielsweise im Verkehrsbereich in den zurückliegenden vier Jahren einfach nichts passiert. Immerhin soll der Verkehrsbereich sieben bis zehn Millionen Tonnen bis 2020 einsparen – stattdessen sind die verkehrsbedingten Emissionen bislang angestiegen.
Auch die Energiewirtschaft sollte zusätzlich 22 Millionen Tonnen weniger ausstoßen. Dieser Beschluss hat allerdings nur ein halbes Jahr gehalten. Dann wurden die 22 Millionen Tonnen auf unterschiedliche Bereiche aufgeteilt – auch auf Industrie und private Haushalte, die seit 1990 bereits sehr viel geleistet hatten. Die Energiewirtschaft wurde dadurch stark entlastet.
Die Lücke wurde also immer größer. Warum konnte sich das Bundesumweltministerium in dieser Situation nicht durchsetzen?
Das Bundesumweltministerium hatte schon immer die Federführung beim Klimaschutz. Allerdings hat das BMU nur wenige Zuständigkeiten. Die liegen am Ende im Wirtschaftsministerium, Verkehrsministerium oder Landwirtschaftsministerium.
Das ist das große Dilemma: Das Umweltministerium konnte also immer viele Ideen haben. Aber diese Ideen mussten gegen die durchaus legitimen Interessen der anderen Ressorts durchgesetzt werden. Das BMU stand deshalb immer sehr allein mit seinen Klimaschutz-Konzepten – ihm fehlte häufig die politische Unterstützung.
Das ging mitunter sogar so weit, dass das Kabinett zwar Klimaschutzprogramme verabschiedete, in denen sich alle Ministerien zu Maßnahmen verpflichteten, es aber an der Umsetzung dieser politisch beschlossenen Maßnahmen haperte.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Das beste Beispiel ist das Verkehrsministerium, das die vorgesehenen sieben bis zehn Millionen Tonnen bis 2020 mit großer Wahrscheinlichkeit einfach nicht einsparen wird. Die Gegner sitzen sowohl in der Automobilindustrie als auch in den Bundes- und Landesregierungen, den Gewerkschaften, in den Automobilclubs und bei den Millionen von Autofahrern.
Das Umweltministerium ist also ziemlich ohnmächtig in diesem Lobbyspiel?
Ohnmächtig ist das Umweltministerium nicht. Aber es kämpft an vielen Fronten: Umwelt- und Klimaschutz hat keine geborene Lobby wie etwa die Industrie- und Verkehrspolitik. Leider ist das Sankt-Florians-Prinzip – das Abschieben der Probleme auf andere – in der Bevölkerung weit verbreitet und die Kenntnisse über die Vorteile eines konsequenten Klimaschutzes sind eher Expertenwissen.
Außerdem sind zu Beginn der vergangenen Legislatur die Zuständigkeiten des Umweltministeriums nochmal eingeschränkt worden. Damals sind die erneuerbaren Energien zurück ins Wirtschaftsministerium gegangen. Zudem gab es interne Absprachen der Koalitionäre, die die Kompetenzen des Umweltministeriums in Sachen Klima weiter eingeschränkt haben.
Was bedeutet das jetzt für die neue Bundesregierung und ihre Klimaschutzpolitik?
In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir die Klimaziele 2020 verfehlen werden – zwar verklausuliert, aber der Sinn der Formulierung ist eindeutig. Es heißt ferner, dass wir das Ziel so schnell wie möglich erreichen wollen. Niemand weiß, was das genau bedeutet: 2023, 2024 oder gar 2025?
Und was bedeutet das für das 2030er Ziel? Je näher man mit der Realisierung des Ziels für 2020 an das Ende des nächsten Jahrzehnts rückt, umso schwieriger wird es werden, das 2030er Ziel zu erreichen.
Dann ist der Koalitionsvertrag kein guter Ausgangspunkt dafür, die Fehler der Vergangenheit wettzumachen?
Nicht unbedingt. Wenn man den Vertrag ernst nimmt, dann müsste ab dem 14. März ein Ruck durch die Klimaschutzpolitik gehen. Es müssten so schnell wie möglich zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden – vor allem, wenn man das Klimaziel für das Jahr 2030 wirklich einhalten will.
Technisch und wirtschaftlich ist das machbar. Was bisher gefehlt hat, ist der politische Wille. Ein guter Schritt ist das geplante Klimaschutzgesetz. Damit würden die Klimaziele verrechtlicht, also juristisch verbindlich werden – und das schon im nächsten Jahr.
Sie sind also trotz allem zuversichtlich?
Ja und nein. Ich bin skeptisch, weil die neue Bundesregierung die Verantwortung erstmal der neuen Strukturwandelkommission übergeben hat, die bis Ende des Jahres Empfehlungen ausarbeiten soll. Ich hoffe aber, dass es dabei endlich auch um ein konkretes, verlässliches Datum für den Kohleausstieg geht.
Das alleine wird aber nicht ausreichen. Der Kohleausstieg hat zwar für viele einen Symbolcharakter. In der Sache geht es aber um viel mehr. Es geht um die Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Es geht um die Gestaltung der Zukunft und um die künftige Rolle Deutschlands als technologisch führendes Land in der Welt.
Wenn man die Klimaziele wirklich ernst meint und sie als Impuls für Innovation und Investition versteht, dann muss in den nächsten Monaten etwas passieren.