Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, Fridays for Future und die Gewerkschaft Verdi organisierten am Freitag gemeinsam an über 100 Orten in Deutschland einen Klimastreik. Die Klimabewegung und die Gewerkschaft fordern gute Arbeitsbedingungen und 100 Milliarden Euro für Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr. Wie sehen Sie diesen Schulterschluss, der sich ja schon länger anbahnt?

Michael Müller: Es ist sicher richtig, dass der Klimaschutz nur aus einem sozialen und demokratischen Verständnis heraus zu verwirklichen ist. Es geht dabei nicht um Ergänzungen im ansonsten unveränderten Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern um eine völlig neue gesellschaftliche Gestaltung. Ich sehe die Zusammenarbeit als Chance, aber erst als einen Anfang.

Der entscheidende Punkt sind die ökologischen Grenzen des Wachstums. Das ist eine Herausforderung, auf die es keine gemeinsame Antwort gibt. Doch damit endet das bisherige Verständnis von Fortschritt, das unter dem Gedanken der Linearität in den letzten zwei Jahrhunderten entscheidend war. Das ist vorbei, das ist die eigentliche Zeitenwende.

Seit mehr als fünf Jahren ist Fridays for Future jetzt aktiv. Das begann mit den spontanen Klimastreiks 2018 und 2019, es folgten Kampagnen für den Kohleausstieg und Klimagerechtigkeit. Wie sehen Sie die weitere Zukunft der Klimabewegung?

Die Antwort hat auch viel mit der sozialen Struktur der Bewegung zu tun. Aus der Systemtheorie wissen wir, was eine erfolgreiche Bewegung braucht: erstens die Fähigkeit zu Bündnissen mit starken Gruppen, die vergleichbare soziale, ökologische und gesellschaftliche Prinzipien vertreten.

Zweitens eine gemeinsame Identität und Ausrichtung im Handeln, auch durch eine möglichst konsensuale Analyse der Aufgaben. Und drittens eine genaue Definition, wer der politische Gegner ist, und eine eindeutige Zielbestimmung, eingeordnet in gesellschaftliche Zusammenhänge.

Ich bin nicht sicher, ob die Klimabewegung auf diesem Weg ist. Nicht zuletzt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat einiges ins Rutschen gebracht. Hinzu kommt, dass wir in den Medien einen bisher nicht gekannten Konformismus erleben. Es ist eine Zeit der Entpolitisierung.

Die Energiewende ist nicht nur "grün" – entgegen manchem Feindbild spielt in der Energiepolitik die Farbe des Parteibuchs oft eine geringe Rolle. Viel wichtiger ist die Arbeit eines funktionierenden Netzwerks hinter den Spitzen der Ministerien und Gremien. Wie sehen da Ihre politischen Erfahrungen aus?

Die Energiewende, die erstmals 1980 vom Öko-Institut konzipiert wurde, hat drei Hauptlinien vorgesehen, die eine Einheit bilden sollen: erstens eine Effizienzrevolution, bei der die Steigerung der Energieproduktivität deutlich höher liegen muss als das Wirtschaftswachstum, zweitens die möglichst schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien und drittens Suffizienz und Begrenzung bei der Nutzung von Energie.

Das wird immer noch nicht hinreichend beachtet – bei keiner Fraktion im Bundestag. Das gilt auch für Infrastrukturfragen, denn die Effizienzrevolution braucht in erster Linie dezentrale Strukturen. Der Fokus liegt überwiegend auf den Erneuerbaren. Das ist wichtig, reicht aber nicht aus. Weil die Zusammenhänge zu wenig beachtet werden, konnte es auch zum Debakel des Heizungsgesetzes kommen.

Richtig ist, dass es – mit Ausnahme der AfD – in den Fraktionen ein unterschiedliches Engagement für die Energiewende gibt. Die Reihenfolge ist wohl: Grüne, SPD, Union, FDP. Das hat seine Tradition, ich erinnere an des Stromeinspeisegesetz, das auf Bundestagsabgeordnete aus CDU, SPD und Grünen zurückging.

Heute gibt es in der Tat fraktionsübergreifende Netzwerke für eine neue Energiepolitik. Das war nach dem Super-GAU von Fukushima noch stärker. Damals hatten die großen Verstromer deutlich an Einfluss verloren.

Klimaneutralität ist ohne CO2-Speicherung nicht zu haben – das gilt nach Ansicht des Wirtschaftsministers nicht nur für Branchen mit unvermeidbaren Emissionen wie Zement, sondern auch für Gaskraftwerke. So steht es auch in Robert Habecks Entwurf für ein Kohlenstoffspeichergesetz. Grüne, SPD und Umweltverbände kritisieren die CCS-Pläne. Welche Rolle sollte die CO2-Speicherung beim Klimaschutz spielen?

Der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer von der CDU hat über CCS gesagt: "Was verbuddelt werden muss, kann nicht gut für die Umwelt sein."

Ich erinnere mich noch an eine Konferenz unter der Leitung des norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg zu CCS in Bergen, an der ich für die Bundesregierung teilgenommen habe. Ich habe das Einpressen von Kohlendioxid in die ausgeplünderten Katakomben der Gas- und Ölförderung abgelehnt. Stoltenberg sah darin ein Geschäftsfeld der Zukunft. Dahinter steht der aus meiner Sicht irrige Glaube, dass im Grundsatz alles so bleiben kann, wie es ist.

Die damals noch in der Abstimmung befindliche Beschlussvorlage für die Haltung der Bundesregierung sah keine kommerzielle Nutzung von CCS vor, wohl aber Studien zur ökologischen Verträglichkeit. Ich wundere mich schon, wie wenig der jetzige Wirtschaftsminister die Debatte zu kennen scheint. Die Haltung der Grünen war zumindest lange Zeit eine klare Ablehnung von CCS.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die Grenzenlosigkeit der Dummheit. Roderich Kiesewetter, CDU-Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender der Parlamentarischen Kontrollkommission, fordert allen Ernstes, den Krieg nach Russland zu tragen. Bei dem Herrn reicht es schon lange nicht mehr aus, ihm das kleine Einmaleins des Friedens zu schenken.

Russland ist die stärkste Atommacht der Welt. Kiesewetter spielt mit dem Feuer. Was ist das für eine Zeit, dass es keinen Aufschrei der Empörung gibt? Wer so einen Militarismus vertritt, kann doch nicht Mitglied der Kontrollkommission sein, die sich um den Extremismus in Deutschland kümmern soll.

Und noch ein zweites Beispiel für unsere verquere Zeit: Eine Klimastudie kommt zu dem Ergebnis, dass zwei Prozent des Weltbruttosozialprodukts ausreichen würden, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Nun habe ich meine Zweifel an solchen Studien, solange ich die Wenn-dann-Annahmen nicht kenne.

Dennoch: Sie können und sollen Mut machen. Interessant ist aber die Parallelität: Die Militärs, aber auch Politiker wie vor allem der frühere und möglicherweise wieder baldige US-Präsident fordern zwei Prozent für die Rüstung. Die Militarisierung der Welt ist wichtiger als die Klimaverträglichkeit der Welt.

Fragen: Jörg Staude

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