Blick auf mehrere Windkraftanlagen in grüner Landschaft
In der Ampel heißen die Erneuerbaren jetzt Friedens- oder Freiheitsenergie, doch die Klimakrise scheint immer noch zu weit weg zu sein. (Foto: Rauenstein/​Wikimedia Commons)

Manchmal hilft es, innerlich einen Schritt zurückzugehen, um die Dimensionen von politischen und gesellschaftlichen Vorgängen beurteilen zu können. Ende November 2021 hatte ich in einer dieser Kolumnen den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition kommentiert.

Jetzt, ein gutes halbes Jahr später und in der letzten Sitzungswoche vor der parlamentarischen Sommerpause des Bundestages, scheint ein guter Moment zu sein für einen weiteren Blick auf die bisherige Energiepolitik der Bundesregierung.

Der Umfang an gesetzlichen Neuregelungen, der die Energiewende in Deutschland voranbringen soll, ist beeindruckend. Eigentlich könnten in dieser Woche im Bundestag sieben Gesetzesvorhaben beschlossen werden.

Die Neufassungen oder Änderungen betreffen das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das Windenergie-an-Land-Gesetz, das Wind-auf-See-Gesetz, das Gebäudeenergiegesetz, das Bundesnaturschutzgesetz, das Raumordnungsgesetz und das Planungssicherstellungsgesetz. 

Bereits beschlossen sind zum Beispiel die Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes und die Abschaffung der EEG-Umlage zum 1. Juli.

Einige Gesetzesinhalte haben es in sich. So wird zum Beispiel im EEG 2023 das Erneuerbare-Energien-Ausbauziel auf 80 Prozent für 2030 und 100 Prozent für 2035 angehoben, bei einem richtigerweise deutlich höher angenommenen Stromverbrauch (bei steigender Effizienz aber dann weniger Energieverbrauch).

Die daraus resultierenden jährlichen Ausbauzahlen sind immens und werden unser Energiesystem grundlegend verändern. Mit dem Wind-an-Land-Gesetz erhalten die Bundesländer erstmals Flächenziele für die Windenergie auferlegt.  

Verglichen mit der energiepolitischen Bilanz der alten Bundesregierung und besonders der Arbeit des alten Wirtschaftsministeriums ist der "Ausstoß" an Gesetzen und Gesetzesänderungen und deren Ambition in weiten Teilen eine Zeitenwende. Zieht man gleichzeitig in Betracht, dass dies alles, ausgelöst durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, vor der größten energiepolitischen Krise und Herausforderung seit Jahrzehnten geschieht, kann man nur sagen: Hut ab!

Mutlose Energiewende-Maßnahmen

Wie schön wäre es, könnte man die Betrachtung hier enden lassen und sich entspannt zurücklehnen. Aber das geht leider nicht. 

Zwar hat Robert Habeck bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages im November letzten Jahres von einer "lernenden Politik" gesprochen. Und die Lernkurve, die aktuelle fossile Energieversorgung bei einem drohendem russischen Stopp der Gaslieferungen sicherzustellen, ist außerordentlich und der viel beschworenen Zeitenwende wohl auch angemessen.

Allein die Aussicht, im Herbst zwei schwimmende Flüssigerdgas-Terminals vor der deutschen Küste installiert und ans Gasnetz angeschlossen zu haben, kann einen beim Blick auf andere Planungsprozesse vor Neid erblassen lassen – oder die Tränen in Augen treiben.

Absurde Vorschläge wie eine deutliche Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke lassen wir mal außen vor – das wäre kein wesentlicher Beitrag zur Versorgungssicherheit angesichts der sehr hohen Risiken und Kosten und der zeitlichen Lücke aufgrund fehlender Brennstäbe.

Im Vergleich zu den Erdgas-Vorhaben sind die Maßnahmen in den derzeit von den Koalitionsfraktionen beratenen Gesetzen an vielen Stellen mutlos. Dabei gibt es in den zahlreichen Stellungnahmen der verschiedenen Verbände und Institutionen viele Vorschläge, die bei allen, die ernsthaft die Energiewende verfolgen, Konsens sein sollten. 

Hier eine thematisch vielfältige und nicht abschließende Liste.

Technologieoffenheit mal anders

Es sollte schnellstmöglich eine Solardachpflicht für neue Wohngebäude sowie größere Umbauten und Sanierungen einführt werden. Am besten gekoppelt mit einem Bundesförderprogramm Solargründächer für die großen und flachen Dächer, um im Sinne der Klimaanpassung Dachbegrünungen nicht komplett zu verdrängen.

Um mit möglichst wenig Windenergieanlagen möglichst viel Strom zu erzeugen, sollten Anreize geschaffen werden, stets die modernsten und leistungsstärksten Anlagen zu errichten. Ein einfaches Mittel dafür sind typenoffene Genehmigungen. Das heißt, die Genehmigung gilt nicht für einen ganz bestimmten Anlagentyp eines ganz bestimmten Herstellers, sondern für eine Anlage mit gewissen Ausmaßen und einer gewissen Leistung.

Liegt die Genehmigung vor, kann der Projektierer sich am Markt eine passende verfügbare Anlage aussuchen. Sonst muss nach fünf Jahren Genehmigung ein veralteter Anlagentyp gebaut werden, um nicht ein komplett neues Genehmigungsverfahren starten zu müssen. Im Sinne der Technologieoffenheit sollte die FDP diesen Punkt eigentlich unterstützen. Schließlich wird dann immer die neueste verfügbare Technologie installiert.

Die Frist für die Bundesländer, ausreichend Windflächen auszuweisen, sollte deutlich verkürzt und nicht zweigeteilt werden, also zwei Prozent spätestens 2026 und nicht erst 2032. Bis dahin sollte die Ausschlusswirkung bestehender Windenergie(regional)pläne sofort entfallen, wenn nicht mindestens zwei Prozent Windenergiefläche ausgewiesen wurden.

Porträtaufnahme von Matthias Willenbacher.
Foto: Wiwin

Matthias Willenbacher

Der studierte Physiker gründete in den 1990er Jahren Juwi, einen Projektentwickler für Erneuerbaren-Anlagen, in dessen Vorstand er bis 2015 war. Heute ist er Geschäftsführer der nachhaltigen Investing-Plattform Wiwin.

Die Kommunen sollten bei der frühzeitigen Bürgerbeteiligung institutionell, personell und finanziell unterstützt werden.

Das Repowering von Freiflächensolaranlagen sollte ermöglicht werden. Die Wirkungsgrade aktueller Module sind gegenüber zehn Jahre alten Modulen deutlich besser. Das bringt bis zum Sechsfachen mehr Strom von der gleichen Fläche. 

Die Personalausstattung in Planungs-, Genehmigungs- und Naturschutzbehörden muss schnellstmöglich erhöht werden, um die zu langen Verfahren zu beschleunigen.

Das Energy Sharing – viele Bürger:innen beteiligen sich gemeinsam an Erneuerbaren-Anlagen und nutzen den Strom über das öffentliche Netz – sollte unbürokratisch ermöglicht werden. Damit können auch Menschen ohne eigenes Dach von der Energiewende profitieren.

Flexibilität im Energiesystem muss belohnt werden. Die Rahmenbedingungen für Speicherlösungen, Lastmanagement und flexible erneuerbare Erzeugungsanlagen müssen deshalb deutlich verbessert werden. So wird Erdgas gespart und erneuerbarer Strom sinnvoll genutzt, statt ihn abzuregeln.

Der Einbau von Gasheizungen bei Neubauten und Sanierungen muss sofort komplett verboten werden.

Fortschritt dringend gesucht

Die Verhandler:innen der Koalition kann man nur auffordern, sich aus den zahlreichen Vorschlägen zu bedienen und auch hier eine "lernende Politik" zu verfolgen und wirklich Fortschritt zu wagen, wie im Titel des Koalitionsvertrages angekündigt. Wir brauchen ihn.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrates in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Im vergangenen November endete meine Kolumne mit den Sätzen:

"Alles in allem steht nicht nur die nächste Bundesregierung vor einer großen Herausforderung, sondern Deutschland insgesamt als Industrienation wie auch seine Bürger:innen.

Wir haben die technischen, finanziellen und kulturellen Möglichkeiten, diese Transformation zu meistern. Dafür brauchen wir Mut, die Chancen beherzt zu nutzen, Gelassenheit, die sich ergebenen Zumutungen wegzustecken, und gelegentlich Demut ob der Größe der Aufgabe.

Ich freue mich, mehr Fortschritt zu wagen."

Dem ist ein halbes Jahr später nichts hinzuzufügen.