Ein langer Gang mit hohen Speicherschränken links und rechts.
Große Batteriestromspeicher sind inzwischen Realität in der Energiewende. (Foto: Portland General Electric/​Flickr)

Klimareporter°: Herr Graebig, nach sechs Jahren endet jetzt Ihr Projekt Windnode. Das untersuchte, wie in Nordostdeutschland – quasi auf Ex-DDR-Gebiet – ein vollständig erneuerbares Energiesystem funktionieren kann.

So weit soll ja ganz Deutschland spätestens 2050 sein. Da sollten sich Ergebnisse aus Windnode in der jüngsten EEG-Novelle wiederfinden oder im Gesetzentwurf zum Energiewirtschaftsrecht, der gerade im Bundestag kursiert. Hat der Gesetzgeber auf Sie gehört?

Markus Graebig: Teils, teils, würde ich sagen. Einen Teil der Windnode-Erkenntnisse hat die Politik in der Tat aufgegriffen – mit der Diskussion über Experimentierklauseln und Sonderförderregionen sowie bei der Entlastung von Power-to-Gas-Anlagen von der EEG-Umlage.

Zwar war bei Windnode nur ein Power-to-Gas-Projekt mit dabei, aber wir haben die gegenwärtige Systematik der Umlagen und Abgaben auf Energie als ein wesentliches Hindernis ausgemacht. Am Ende ist das novellierte Erneuerbare-Energien-Gesetz, das EEG 2021, aber zurückhaltender ausgefallen, als wir uns das gewünscht haben.

Auch beim Entwurf zum Energiewirtschaftsgesetz kann man sehen, dass der Gesetzgeber beim Nutzen abgeregelten Stroms noch nicht so weit ist, wie das angebracht wäre. So gibt es für unseren Partner Enertrag, der in Nordbrandenburg in Nechlin einen Windwärmespeicher betreibt, nach dem Auslaufen unserer Experimentierklausel, der sogenannten Sinteg-Verordnung, im Energiewirtschaftsgesetz noch keine wirklich überzeugende Anschlussregelung. Die Diskussion um regulatorische Experimentierklauseln muss deswegen weitergehen.

Auch das Vorhaben, die EEG-Umlage durch Einnahmen aus der CO2-Bepreisung zu ersetzen, ist von uns thematisiert worden. Jetzt wird konkret vom Auslaufen der EEG-Umlage gesprochen. Davon war zu Anfang der Legislaturperiode noch keine Rede. Da ist die Diskussion ein gutes Stück vorangekommen.

Wenn die sechs oder sieben Cent EEG-Umlage wegfallen: Glauben Sie wirklich, der Einsatz von Ökostrom in der Sektorkopplung – also für Power-to-Gas, grünen Wasserstoff oder Wärmespeicher – wird dann plötzlich wirtschaftlich?

Wenn wir über die Regularien für solche Technologien reden – da gibt es immer mehrere Bausteine. Der Wegfall der EEG-Umlage ist aber ein ganz wichtiger. Zum einen, um ein Stück weit einen fairen Wettbewerb zu anderen Technologien herzustellen.

Zum anderen muss die Verzerrung weg, dass Anwendungen zur Sektorkopplung die volle Last der EEG-Umlage zu tragen haben, während das beim Einsatz konventioneller Energieträger teilweise nicht der Fall ist. Ich bin überzeugt, dass der Schritt hin zur CO2-Bepreisung und weg von der EEG-Umlage für viele Anwendungen ein ganz wichtiges Signal ist.

Windnode hat erprobt, wie ein erneuerbares Stromsystem flexibel auf schwankende Erzeugung und Nachfrage reagieren kann. Das Netz könnte zum Beispiel durch einen Markt für flexible Stromangebote entlastet werden.

Das scheitert bisher vor allem daran, sagen Beobachter, dass die Entscheider im Bundeswirtschaftsministerium und in den Koalitionsfraktionen Kontrollfreaks sind und Angst vor Schwankungen im Netz oder gar einem "Blackout" haben. Deswegen wollen sie die Erneuerbaren bis auf die letzte Kilowattstunde messen und verfolgen können.

Bei Windnode haben wir uns neben der Identifikation von technischen Flexibilitätsoptionen und der erforderlichen Digitalisierung auf die Frage konzentriert, wie wir künftig Netzengpassmanagement betreiben. Lassen wir dort – zusätzlich zum üblichen Redispatch – Marktmechanismen zu, und wenn ja, in welchem Umfang?

Hinter dem Streit über diese Frage verbirgt sich einerseits die EU-Perspektive, die durchaus marktliche Mechanismen sehen möchte. Andererseits agiert die Bundesregierung hier eher zurückhaltend.

Und natürlich darf man die Frage der Systemsicherheit und Systemstabilität in einem so komplexen System wie dem europäischen Stromnetz nicht vernachlässigen. Denn die eigentliche Frage ist noch größer: Wie garantieren wir eine gesicherte Versorgung in einem Stromsystem, das perspektivisch keine nennenswerte Leistung mehr aus konventionellen Kraftwerken hat?

Damit sind wir bei der Henne-Ei-Debatte im Stromsystem. Müssen wir erst die Netze ausbauen, bevor es mehr Erneuerbare geben kann, oder können wir einen steigenden Anteil erneuerbarer Energie bewältigen, indem wir das Stromsystem flexibler machen und uns damit Netzausbau und große Speicher sparen?

Beides muss natürlich im besten Fall Hand in Hand gehen. Der Netzausbau ist ja in vollem Gange, auch wenn die großen Höchstspannungs-Gleichstromleitungen noch fehlen, die im Hinblick auf die Klimaneutralität notwendig sind.

Porträtaufnahme von Markus Graebig.
Foto: 50 Hertz

Markus Graebig

ist beim Netzbetreiber 50 Hertz Gesamt­projekt­leiter für das nord­ost­deutsche Verbund­projekt Windnode. Das Projekt mit rund 70 Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft wird vom Wirtschafts­ministerium als ein "Schaufenster intelligente Energie" (Sinteg) gefördert. Graebig, der Elektro­technik in Berlin und Nachhaltige Entwicklung in Cambridge studiert hat, war zuvor Berater bei McKinsey und Leiter von Forschungs- und Kooperations­projekten am Fachgebiet Energie­systeme der TU Berlin.

Im Netzgebiet von 50 Hertz im Osten Deutschlands sind die Redispatch-Maßnahmen und -Kosten in den letzten Jahren dank Netzausbau jedenfalls deutlich zurückgegangen. Das ist schon einmal ein gutes Zeichen.

Auf jeden Fall ist es verkürzt zu sagen, für die Zukunft gibt es hier nur eine Lösung, und dazu müssen wir auf den Wunderspeicher warten. Die große Leitfrage bei Windnode war: Was können wir tun, um ein Stromsystem mit hundert Prozent Erneuerbaren zu ermöglichen? Und mit welchen Bausteinen können wir das schaffen?

Unsere Denkweise war immer: Wir brauchen ein ganzes Puzzle an Steinen, um den Weg zu hundert Prozent Erneuerbaren zu bauen. Dazu gehören erstens der Ausbau der erneuerbaren Energien an sich, zweitens – als wichtiges Element – der Netzausbau, drittens die Energieeffizienz – und die Bausteine vier, fünf und sechs sind dann Speicherung, Flexibilität und Sektorkopplung. Wenn wir alle diese Bausteine nutzen, entsteht für die Zukunft ein vollständiges Bild.

Was wir künftig stärker brauchen, ist die Langzeitspeicherung in Zusammenhang mit der Sektorkopplung. Da sprechen wir über Zeithorizonte, die mit klassischen Speichersystemen noch nicht zu beherrschen sind.

An der Stelle kommt ja seit Jüngerem Wasserstoff ins Spiel. Das haben wir bei Windnode noch gar nicht abgebildet. Als wir das Projekt 2015 aufsetzten, herrschte noch die Meinung vor, Wasserstoff läge derart weit in der Zukunft und sei derart weit vom Markt entfernt, dass wir selbst bei einem geförderten Projekt keine sinnvollen Anwendungen für relevante Wasserstoff-Projekte haben.

Im Grundsatz hat sich daran doch nichts geändert: Schaut man auf die nationale Wasserstoffstrategie mit dem Ziel von 5.000 Megawatt Elektrolyseuren bis 2030 und zugleich auf den Riesenbedarf an grünem Wasserstoff, den alle schon mal anmelden, dann sind die dafür nötigen Mengen doch Wunschdenken.

Die reale Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff hat sich in den letzten fünf Jahren noch nicht wesentlich geändert, wohl aber die Beschlusslage. Die Überzeugung, dass Wasserstoff notwendig ist, hat sich geradezu grundlegend gewandelt.

Als Windnode 2015 startete, gab es buchstäblich niemanden, der gesagt hätte, lasst uns eine Wasserstoff-Anlage im Maßstab eines Reallabors bauen. Heute kenne ich unter den Akteuren von Industrie und Wirtschaft keinen mehr, der nicht ernsthaft über Wasserstoffstrategien nachdenkt.

Auch in der Politik sehen wir eine Bewegung, die am Anfang der Legislatur undenkbar war. Dass die Bundesregierung darangeht, die EEG-Umlage zum Beispiel für Power-to-Heat-Anlagen zu streichen, halte ich für einen fundamentalen Paradigmenwechsel.

Der Netzbetreiber 50 Hertz, der das Windnode-Konsortium anführte, und die Kohle- und Chemiegewerkschaft IG BCE starteten Mitte Februar zusammen mit den Bundesländern des 50-Hertz-Gebiets eine Initiative, um Nordostdeutschland zu einem "führenden europäischen Standort für die Industrie- und Klima-Transformation" zu machen. Fließen in dieses politische Projekt auch Erkenntnisse aus Windnode ein?

Das Projekt Windnode als solches ist Ende März erst einmal abgeschlossen. Wir überlegen aber sehr wohl, wie wir, auch aufbauend auf Windnode, die Aktivitäten für hundert Prozent Erneuerbare fortsetzen können.

Ich finde es insgesamt wichtig, die klimapolitische Dimension, unter der der Kohleausstieg und die Energiewende bisher vornehmlich diskutiert wurde, stärker mit einer industrie- und arbeitsmarktpolitischen Dimension zu verbinden.

Dass wir einen Konsens über die Dramatik des Klimawandels haben und dass Deutschland die Paris-Ziele zu erfüllen hat, ist für mich selbstverständlich. Es gilt aber zu lernen, dass in diesem Prozess eine große industriepolitische Chance stecken kann.

Das haben wir bei Windnode versucht zu verdeutlichen. Genau diese Sichtweise erkenne ich bei dieser Initiative von 50 Hertz und IG BCE wieder.

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