Großer Kran steht neben einem Windradturmfuß.
2030 soll der Strom zu 80 Prozent aus erneuerbaren Quellen kommen. (Foto: Joachim Kohler/​Wikimedia Commons)

Der Koalitionsvertrag ist besser als alles, was die Groko in den letzten acht Jahren vorgelegt hat. Das macht Hoffnung. Die Ampelkoalition wird in den kommenden Jahren den unumkehrbaren Energiesystemwechsel in Richtung einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien vollziehen.

Nichts anderes steht im Energiekapitel des Koalitionsvertrags. Das ist notwendig und hoffentlich hinreichend, um das 1,5‑Grad-Ziel zu erreichen.

Das ist mutig, weil es Veränderungen bei sehr vielen Einflussgrößen braucht und den Menschen in Deutschland einiges zumutet. Und es ist demütig, mit Respekt vor dieser wirklich großen Herausforderung zu stehen.

Grünen-Chef Robert Habeck hat bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages von einer "lernenden Politik" gesprochen. Diese wird auch notwendig sein. Viele Vorschläge, wie das Energiesystem zu transformieren ist, liegen zwar auf dem Tisch. Weil aber an zahlreichen Stellschrauben gleichzeitig gedreht werden muss, werden Nachbesserungen für ein besseres Zusammenspiel der Maßnahmen die Regel sein.

2030 will die neue Koalition einen Anteil von 80 Prozent erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch erreichen. Das ist ein ambitioniertes Vorhaben.

Nimmt man noch den prognostizierten Stromverbrauch von jährlich 680 bis 750 Milliarden Kilowattstunden in den Blick, wird das Ziel noch mal ambitionierter. 80 Prozent davon entsprechen 544 bis 600 Milliarden Kilowattstunden aus erneuerbaren Energien. 2020 haben die Erneuerbaren-Anlagen in Deutschland 251 Milliarden produziert.

Erneuerbare Stromerzeugung bis 2030 verdoppeln

Wir müssen also die erneuerbare Stromerzeugung in neun Jahren deutlich mehr als verdoppeln. Und sehr wahrscheinlich wird selbst das nicht reichen. Im Wärmesektor wird der Stromverbrauch deutlich steigen, weil die Bestandsgebäude schneller mit Wärmepumpen ausgestattet werden, als die Gebäude gedämmt werden können.

Eine höhere – sogar doppelt so hohe – erneuerbare Stromproduktion ist aber möglich, wenn die vorhandenen technischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden.

Das heißt für Windenergieanlagen sehr hohe Türme, sehr große Rotordurchmesser und leistungsstarke Generatoren. Drei moderne Windkraftanlagen in jeder Gemeinde würden rechnerisch reichen, um rund 600 bis 700 Milliarden Kilowattstunden Strom in Deutschland zu produzieren.

Beim Solarstrom bedeutet das Ziel: Ausbau auch auf bestehenden Dächern und Fassaden, als Biodiversitäts- und Agri-Photovoltaik, auf künstlichen Gewässern, auf Autos und so fort. Allein ein Prozent dieser Flächen, mit Solarmodulen belegt, ermöglicht ebenfalls eine Stromproduktion von 600 bis 700 Milliarden Kilowattstunden.

Die angehenden Regierungsparteien haben eine Vielzahl von richtigen Maßnahmen benannt, um diese Möglichkeiten nutzen zu können. Sie wollen bürokratische Hemmnisse abbauen, Genehmigungsverfahren beschleunigen, das Umlagen- und Abgabensystem reformieren (unter anderem die EEG-Umlage abschaffen) und ein Klimageld für den sozialen Ausgleich entwickeln.

Sie wollen die Bevölkerung frühzeitig in Planungsprozesse einbeziehen und Kommunen finanziell an Solar- und Windparks beteiligen, auch an bestehenden. Für viele der Vorhaben liegen bereits fertige Konzepte auf dem Tisch, sodass einer schnellen Umsetzung nichts im Wege steht.

Aber auch die Länder müssen mitziehen. So müssen zum Beispiel die Abstandsregelungen für Windenergieanlagen in Bayern und Nordrhein-Westfalen oder das Verbot von Windrädern im Wald in Thüringen an die neue Realität angepasst oder gleich von der Bundesregierung vorgegeben werden

Genehmigungsbeschleunigung vs. Bürgerbeteiligung?

Spannend wird es sein, wie die stark beschleunigten Genehmigungsverfahren und die bessere Bürgerbeteiligung so miteinander verzahnt werden, dass beides angemessen gelingt. Der Ansatz, die Genehmigungsbehörden durch Projektteams zu entlasten, klingt vielversprechend, bedarf aber noch der Konkretisierung. Denn auch die Kommunen müssen bei der Gestaltung der Bürgerbeteiligung entlastet werden.

Porträtaufnahme von Matthias Willenbacher.
Foto: Wiwin

Matthias Willenbacher

Der studierte Physiker gründete in den 1990er Jahren Juwi, einen Projektentwickler für Erneuerbaren-Anlagen, in dessen Vorstand er bis 2015 war. Heute ist er Geschäftsführer der nachhaltigen Investing-Plattform Wiwin.

Dass der erneuerbare Strom besser vor Ort genutzt werden soll, ist ein dringend notwendiges Vorhaben. Bei einer dezentral organisierten Energiewende können gleichzeitig neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfung entstehen sowie Netzengpässe, abgeregelter Strom und damit Netzausbau vermieden werden. Eine echte Win-win-Situation.

Hier muss aber bald genauer ausbuchstabiert werden, was im Koalitionsvertrag zur Bürgerenergie und zur unkomplizierten Gestaltung von Quartierskonzepten lediglich angerissen wurde. Ein einfacher Mieterstrom, besonders aber eine regionale Nutzung von erneuerbarem Strom im sogenannten Energy Sharing wären hier die echten Ausbau-Turbos.

Positiv ist auch das Vorhaben, über Artenhilfsprogramme flächendeckenden Natur- und Artenschutz zu betreiben, um zu einem stärkeren Populationsschutz bei durch erneuerbare Energien gefährdeten Arten zu kommen. Dass die Betreiber diese Programme mitfinanzieren sollen, finde ich als Windkraftbetreiber angemessen, wenn im Gegenzug die Genehmigungsprozesse schneller und unbürokratischer werden.

Wo viel Licht ist, ist auch Schatten

Der Umgang mit fossilem Erdgas stellt sich im Vertrag allerdings sehr zwiespältig dar. Auf der einen Seite wollen die Ampelkoalitionäre die notwendige gesicherte Leistung über Erneuerbaren-Leistungen wie Biomasse und Wasserkraft sowie über Speicher, Energieeffizienz und Lastmanagement gewährleisten.

Im gleichen Atemzug sollen aber auch Kraft-Wärme-Kopplungs-Gaskraftwerke und neue "H2‑ready"-Gaskraftwerke an Kohlekraftwerkstandorten gefördert werden. Die Koalitionäre unterschätzen hier die Möglichkeiten des lokalen und regionalen Lastmanagements und die Einsatzmöglichkeiten von kleinen Gasmotoren und Gasturbinen, die auch sehr schnell gebaut werden können.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrats in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Ausbaufähig ist auch der Ansatz, ein "Klimaneutralitätsnetz" berechnen zu lassen, das zeitlich über die Netzentwicklungspläne hinausgeht. Der Text des Koalitionsvertrages scheint sich nur auf die Stromnetze zu beziehen, erforderlich ist aber unbedingt, Strom- und Gasnetze gemeinsam zu betrachten.

Die künftige Koalition will bis 2030 den Anteil der erneuerbaren Wärme von heute 15 Prozent auf 50 Prozent mehr als verdreifachen. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Stromnetze, sondern noch viel mehr auf die Gasnetze. Eine Netzplanung vom Ende her, also für eine vollständig erneuerbare Energieversorgung, ist dringend vonnöten.

Deutschland kann das

Alles in allem steht nicht nur die nächste Bundesregierung vor einer großen Herausforderung, sondern Deutschland insgesamt als Industrienation wie auch seine Bürger:innen.

Wir haben die technischen, finanziellen und kulturellen Möglichkeiten, diese Transformation zu meistern. Dafür brauchen wir Mut, die Chancen beherzt zu nutzen, Gelassenheit, die sich ergebenen Zumutungen wegzustecken, und gelegentlich Demut ob der Größe der Aufgabe.

Ich freue mich, mehr Fortschritt zu wagen.

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