
Klimareporter°: Frau Verlinden, der Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck hat letzte Woche eine "Zukunftsagenda" vorgestellt. Damit soll im Wahlkampf der Klimaschutz wieder mehr im Vordergrund stehen. Kann das noch gelingen?
Julia Verlinden: Übers Klima reden wir Grünen immer. Die Frage ist, wie es in der Gesellschaft, auch medial, widerhallt. Ich bekomme, auch von Journalist:innen, schon die Rückmeldung, gerade laufe das Klimathema nicht und man könne es nicht "unterbringen".
Die Klimakrise bleibt die größte Bedrohung. Darauf wies jetzt auch die Klima-Risikoeinschätzung der Sicherheitsbehörden hin. Es ist vollkommen gerechtfertigt, mehr darüber zu sprechen. Aber das hängt nicht nur von uns ab, sondern auch von vielen anderen Gruppen.
Dass die Leute sich nicht für die Klimakrise interessieren oder sie gar bestreiten – ist eine Ursache dafür nicht, dass Klimapolitik in den letzten Jahren an Glaubwürdigkeit verloren hat?
Das glaube ich nicht. Zum ersten Teil der Frage: In Umfragen tauchen die Sorgen um das Klima immer wieder an vorderer Stelle auf. Und zugleich gibt es Menschen, die durch Medienberichte verunsichert werden, weil es im Interesse fossiler Lobbygruppen ist, Klimaschutzpolitik zu diskreditieren.
Und zur Frage der Glaubwürdigkeit: Entscheidend für mich ist, was wir als Koalition in der Legislatur erreicht haben – und da ging es beim Klimaschutz trotz Widerstand, zum Beispiel von Koalitionspartnern, viele wichtige Schritte nach vorn.
Da lobt der unabhängige Expertenrat für Klimafragen in seinem Zwei-Jahres-Gutachten die Ampel. Das Tempo der CO2-Reduktion habe sich deutlich beschleunigt. Es müsse aber auf das 1,5-Fache gesteigert werden, um das Klimaziel für 2030 zu erreichen.
Dieses Ergebnis kommentierten Sie mit den Worten, das Gutachten zeige, Deutschland sei erstmals auf Kurs zu seinen Klimazielen. Rechnen Sie anders als der Klimarat?
Dass wir die Klimaziele für 2030 auf jeden Fall erreichen, sage ich nicht. Aber wir haben in den letzten drei Jahren so vieles umgesetzt, dass die Klimaziele erstmals überhaupt wieder in Reichweite geraten sind. Das sagt auch der Expertenrat.
Klar ist: Es muss noch wesentlich mehr passieren, gerade in den Sektoren, wo wir noch nicht auf Kurs sind, wie bei Wärme und Verkehr. Wer nach der Wahl auch immer regiert, der muss noch dieses Jahr ein neues Klimaschutzprogramm vorlegen.
Das verlangt Paragraf 9 des geltenden Klimaschutzgesetzes: "Die Bundesregierung beschließt spätestens zwölf Kalendermonate nach Beginn einer Legislaturperiode ein Klimaschutzprogramm."
Das wird viel stärker die Zeit nach 2030 in den Blick zu nehmen haben. Da müssen wir näher an die Netto-Null bei den Emissionen heran. Auf dem Weg dahin haben wir einen guten Schritt geschafft. Natürlich kann man sich nicht zurücklehnen.
Derzeit wird eher befürchtet, unter einer unionsgeführten Regierung werde der Klimaschutz zurückgedreht. Einiges lässt sich doch aber nicht mehr rückgängig machen. So wird der 60-Prozent-Anteil der Erneuerbaren am Strommarkt künftig die Spielregeln für neue Kraftwerke vorgeben – oder?
Deswegen findet sich auch kein Betreiber für ein neues Atomkraftwerk. Ich glaube auch nicht, dass Friedrich Merz ein solches betreiben möchte. Diese Atomdebatte ist echt eine Nebelkerze.
Julia Verlinden
ist seit 2013 Bundestagsabgeordnete der Grünen. Die studierte Umweltwissenschaftlerin aus Lüneburg war acht Jahre Sprecherin für Energiepolitik ihrer Fraktion. Seit drei Jahren koordiniert sie als Fraktionsvize die parlamentarische Arbeit in den Bereichen Klima, Energie, Verkehr, Bauen, Umwelt, Landwirtschaft und Tourismus.
Beim Strom geht es künftig vor allem um die Frage, wie flexibel der Markt gestaltet wird. Wie sieht das Strommarktdesign aus, welche Anteile werden für Bioenergie und Gaskraftwerke geplant und wie schnell werden die Gasanlagen auf Wasserstoff umgestellt.
Darüber wird es Konflikte unter den Parteien geben und harte Auseinandersetzungen mit Lobbyinteressen. Eine Rückabwicklung der Erneuerbaren halte ich im Stromsektor aber für unwahrscheinlich. 2035 müssen wir bei 100 Prozent Erneuerbaren beim Strom landen. Das ist notwendig, um die Klimaziele zu schaffen.
Im vom Bundestag nicht mehr behandelten Kraftwerkssicherheitsgesetz hat das Wirtschaftsministerium unter Robert Habeck vorgeschlagen, 5.000 Megawatt reine Gaskraftwerke zu bauen, die nicht auf Wasserstoff umgestellt werden. Passt das für Sie zu dem Ziel eines zu 100 Prozent erneuerbaren Stromsystems?
Das ist so nicht ganz korrekt: Die Frage ist, wie zuverlässig neue Kraftwerke auf Wasserstoff umgestellt werden. Daran hängen auch die von der EU genehmigten Subventionen. Die EU wird zu Recht genau hinschauen, dass Deutschland keine unerlaubten Beihilfen für fossile Kapazitäten schafft.
Mein Ziel ist, die Flexibilitäten beim Strom auf eine breite Basis zu stellen. Das haben wir zum Beispiel mit der Bioenergie mit dem Gesetzesbeschluss Ende Januar auch gemacht. Aber es geht auch um Flexibilitäten auf der Nachfrageseite, zum Beispiel um dynamische Stromtarife für die Verbraucher.
Dass die Bioenergie auf den letzten Drücker noch ein Fördergesetz bekam, den Erfolg heften sich drei Fraktionen – Union, SPD und Grüne – gleichermaßen an die Brust. Jahrelang stand die Branche im Wirtschaftsministerium vor verschlossenen Türen. Hat das Parlament die Bioenergie gerettet?
Ich sage so: Zur Bioenergie hatten wir in der Legislatur schon einiges an Debatten. Bei meinen Gesprächspartnern gab es aber wenig Bereitschaft, die Flexibilität der Anlagen so zu verbessern, wie uns das jetzt gelungen ist.
Die Bioenergie weiter übers EEG zu unterstützen, ohne dass sie sich an Sonne und Wind ausrichtet, wäre einfach nur teuer gewesen. Entscheidend war jetzt, dass wir eine Flexibilisierung durchsetzen konnten.
Bei Solar- und Windenergie nähern wir uns den klimapolitisch nötigen Ausbaupfaden. Anderswo stockt es: bei der Reform des Strommarkts oder beim Kraftwerkskonzept, gar nicht zu reden von Wärmemarkt und Heizungsumstellung. War dafür zu wenig Zeit oder haben Sie den Reformbedarf unterschätzt?
Ich glaube nicht, dass wir illusorisch waren über die Aufgaben und wie schnell sie zu lösen sind. Zu dem wirklich großen Reformstau kamen "on top" noch der Gaslieferstopp von Putin und die Energiepreiskrise. Angesichts dessen haben wir wirklich viel durchgesetzt und verbessert.
Gleichwohl sind noch genügend Aufgaben übrig. An denen wollen wir gern in der nächsten Legislaturperiode weiterarbeiten.
Ein Ergebnis der Gaskrise ist die offensichtlich überdimensionierte Infrastruktur für Flüssigerdgas an der Küste. Über das Einfallstor kommt nicht nur Fracking-Gas aus den USA, sondern auch russisches Gas nach Deutschland. Können Sie über diesen LNG-Boom wirklich glücklich sein?
Zunächst freue ich mich über den Ausbau der Erneuerbaren, mit dem wir auch schneller vom Gas unabhängig werden.
Die Vorgängerregierung hatte allerdings mehrere Pfadabhängigkeiten geschaffen, etwa eine große Abhängigkeit vom russischen Gas, vor der wir Grünen immer gewarnt haben. Auch wurden bis kurz vor dem Regierungswechsel zur Ampel noch neue fossile Gasheizungen gefördert, die die Menschen in eine fatale fossile Kostenfalle gelockt hatten.
Diese infrastrukturellen Abhängigkeiten waren schon ein schweres Erbe. Kommunen und Unternehmen hatten ihre Energieversorgung auf Gas gebaut. Das sei die tollste Sache und gar nicht so klimaschädlich, wurde ihnen vor wenigen Jahren noch erzählt. Wir wissen aber natürlich, dass Erdgas – auch mit seinen Vorketten – erhebliche Klimawirkung hat und deswegen keine Alternative zu den Erneuerbaren ist.
Es gab nicht nur diese Infrastruktur und die Abhängigkeiten vieler Akteure, sondern wir mussten zugleich neue Gasquellen auftun – das ergab zusammen eine sehr herausfordernde Situation.
Wissenschaftler sagen, die Gaskrise wäre eine Chance gewesen, beim Gasausstieg schneller voranzukommen.
Ich glaube, es wäre möglich gewesen, den Gasverbrauch in den letzten Jahren schneller zu senken. Eine Sache, wo das sehr intensiv diskutiert wurde, war das Gebäudeenergiegesetz.
Im Koalitionsvertrag stand dazu die Einigung, jede neue Heizung solle ab 2025 zu 65 Prozent mit erneuerbarer Energie betrieben werden. Jetzt gilt ein Aufschub. Neue Gasheizungen dürfen zwar noch eingebaut werden, müssen dann aber auf Erneuerbare umgestellt werden, wenn die entsprechende kommunale Wärmeplanung vorliegt.
Unter unseren Koalitionspartnern gab es trotz der Energiepreis- und Gaskrise eher wenig Interesse, sich an das zu halten, was im Koalitionsvertrag verabredet war. Deswegen konnten wir mit der Gebäudeenergiegesetz-Novelle nur einen Dreiviertel-Schritt gehen.
Gut ist beispielsweise, dass alle Wärmenetze nun laut Gesetz schrittweise auf erneuerbare Energien umgestellt werden müssen. Aus Klimaperspektive hätte man hier noch mehr und noch schneller etwas tun können, aber dafür braucht man eben parlamentarische Mehrheiten.
Wo sehen Sie einen Hebel, beim Klimaschutz zu einer anderen Stimmung in der Gesellschaft und dann auch zu anderen Mehrheiten zu kommen?
Ich komme mit den Leuten übers Klima bei Alltagsthemen ins Gespräch, die auch klimarelevant sind. Eins davon ist das Deutschlandticket.
Wir fordern als Grüne, dessen Preis wieder auf 49 Euro zu senken, und, dass Kinder kostenfrei mitgenommen werden können. Wir setzen uns auch für mehr bezuschusste Jobtickets ein und wollen den öffentlichen Nahverkehr auszubauen.
Gerade wenn die Leute etwas liebgewonnen haben wie das Deutschlandticket, können wir ihren Alltag verbessern und zugleich zum Klimaschutz beitragen.
Das Deutschlandticket gibt der Mobilität von Millionen zweifellos eine neue Qualität, bringt aber nicht so viel fürs Klima. Die optimistischste Berechnung, vorgelegt vom Forschungsinstitut MCC, besagt, das Ticket würde den Autoverkehr um etwa sieben Prozent verringern und jährlich etwa 6,7 Millionen Tonnen CO2 einsparen.
Ohne das Deutschlandticket hätte der Verkehr sein Klimaziel also noch viel stärker gerissen, als er es ohnehin tut. Das Ticket kann aber die Klimabilanz des Verkehrs nicht retten, das kann nur ein möglichst schneller Ausstieg aus der fossilen Verbrennung, im Verkehr also aus Benzin und Diesel.
Ich bin ja dabei, festzuhalten, dass die jetzigen Klimamaßnahmen noch nicht ausreichend sind. Aber wenn wir die Bahn so attraktiv machen, dass sich noch mehr Menschen ein Deutschlandticket kaufen und noch mehr Arbeitgeber das Jobticket bezuschussen, das wären doch relevante Schritte noch vorn. Das Auto würde häufiger stehen gelassen.
Was wäre denn die Alternative? Das Autofahren ab sofort verbieten?
Das nicht. Entscheidend als Klima-Maßnahme ist aber nicht das Deutschlandticket, sondern das Durchsetzen des Verbrennerverbots ab 2035.
Völlig richtig, dass das Verbrennerverbot ein wichtiger Meilenstein für die Klimapolitik der zurückliegenden Legislatur ist – und Unternehmen wie Verbraucher:innen Planungssicherheit gibt.
Damit wir das verteidigen und noch mehr durchsetzen können, brauchen wir politische Mehrheiten. Wir als Grüne hätten sowohl beim Thema klimafreundliche und bezahlbare Wärme als auch im Verkehrssektor bei der einen oder anderen Maßnahme mehr Klimaschutz vorangebracht.
Aber die Debatte in der Gesellschaft ist derzeit eine andere, befördert auch von Lobbyisten, die ihre Geschäftsmodelle fortsetzen wollen, die die Menschen verunsichern und Geld investieren, damit die Diskussion so läuft, wie sie derzeit läuft.
Dessen sind wir uns bewusst und werben dafür, dass Klimaschutz wichtiger ist, als dass fossile Konzerne weiter ihre Geschäfte machen. Diese Übernahme politischer Verantwortung sehe ich leider nicht bei allen Parteien der politischen Konkurrenz.