Letztes Jahr reformierte die Ampel-Regierung das Klimaschutzgesetz. Ein Motiv war, sich nicht jedes Jahr vorhalten lassen zu müssen, dass es vor allem im Verkehr und bei den Gebäuden so gar nicht klappt mit der CO2-Reduktion.
Also wurde beschlossen, fortan alle Emissionen in einen Topf zu werfen und dann erst zu sehen, ob Deutschland auf dem Pfad zum Klimaziel für 2030 ist. Dieses sieht vor, die Emissionen um 65 Prozent gegenüber 1990 zu verringern.
Die Ampel-Idee ging letztes und dieses Jahr prima auf. 2023 lag die CO2-Bilanz um 76 Millionen Tonnen und 2024 um 36 Millionen Tonnen unter der gesetzlichen Vorgabe.
Die Gründe sind bekannt. Die Energiewirtschaft steigt schneller aus der Kohle aus und die Industriezweige, die viel Energie verbrauchen, schwächeln wegen der schlechten Konjunktur und hoher Energiepreise.
Die entscheidende Frage aber ist: Trägt der Rechentrick mit den Gesamtemissionen so weit, dass Deutschland 2030 das 65-Prozent-Ziel erreicht? Diese Hoffnung hat der Expertenrat für Klimafragen am Mittwoch mit seinem neuen Gutachten, anders kann man es nicht sagen, zunichtegemacht.
CO2-Reduktion um das 1,5-Fache nötig
Zwar lobt das 300-seitige Gutachten des unabhängigen Gremiums, dass die CO2-Emissionen in den letzten zehn Jahren deutlicher abnahmen als zuvor. So sanken in der Zeit von 2010 bis 2019 die Emissionen jährlich nur um rund elf Millionen Tonnen. Von 2013 bis einschließlich 2023 lag die jährliche Minderungsrate dann aber im Schnitt schon bei 26 Millionen Tonnen.
Trotz der Verbesserung reicht diese Rate nach den Angaben nicht aus, um 2030 das 65-Prozent-Ziel zu schaffen. Dazu müssten die Emissionen bis dahin jedes Jahr um rund 39 Millionen Tonnen sinken, also etwa anderthalbmal so stark wie bisher, rechnet der Expertenrat vor.
Schleppender Klimaschutz in Verkehr und Gebäuden
- Zur Emissionsreduktion im Zeitraum von 2014 bis 2023 steuerte die Energiewirtschaft 70 Prozent bei, die Industrie zehn Prozent. Es folgen Verkehr (acht Prozent), Gebäude (fünf), Landwirtschaft (vier) und Abfallwirtschaft (zwei Prozent).
- Bis 2020 stieg die Anzahl fossil angetriebener Pkw an, erreichte einen Höchststand von 47,9 Millionen Fahrzeugen und nahm seitdem nur leicht auf 47,7 Millionen ab. Im Bestand gab es nur leichte Verschiebungen von reinen Verbrennern hin zu Hybridfahrzeugen.
- Die reinen Elektroautos verzeichnen eine sinkende Effizienz. Gegenüber 2021 verdoppelte sich bis 2023 die Motorleistung der neu zugelassenen E‑Autos und die durchschnittliche Leermasse stieg um mehr als zwölf Prozent.
- Das Deutschlandticket hat die Nutzung des ÖPNV gesteigert. So lag im ersten Halbjahr 2024 die Zahl an ÖPNV-Fahrten um sieben Prozent höher als im gleichen Zeitraum 2023. Wer das Deutschlandticket nutzt, absolviert etwa zehn Prozent mehr Fahrten als Nutzer anderer Tickets. Inwieweit das Deutschlandticket auch den motorisierten Individualverkehr reduziert, dazu gibt es keine einheitlichen Angaben.
- 2024 brach der Absatz aller Heizungssysteme gegenüber dem Vorjahr stark ein. Der Absatz von Gaskesseln ging um 47 Prozent zurück und der von Wärmepumpen um 43 Prozent. Dennoch wurden 417.000 Gaskessel verkauft – mehr als doppelt so viele wie die 200.000 verkauften Wärmepumpen. Der Absatz von Ölkesseln ging von 2023 zu 2024 nur um zehn Prozent zurück. Der Bestand an Öl- und Gaskesseln verringerte sich von 2021 bis 2023 pro Jahr um nur 0,7 Prozentpunkte.
Damit ist gutachterlich zwar festgestellt, dass Deutschland sein Klimaziel 2030 verfehlen wird, unmittelbare Folgen hat das aber nicht. Die neue Bundesregierung muss ohnehin ein neues Klimaschutzprogramm vorlegen, voraussichtlich bis Ende 2025.
Ursachen für das Verfehlen sieht der Expertenrat vor allem in der zu geringen Emissionsminderung in den Gebäuden und im Verkehr. So seien die Austauschquoten bei Gas- und Ölheizungen zu niedrig, heißt es im Gutachten. Auch sei der Absatz neuer fossiler Heizungen weiter hoch. Zudem werde nach wie vor eine hohe Anzahl fossiler Pkw neu zugelassen.
Wälder fallen als CO2-Senke aus
Zu diesen beiden "alten" Problembereichen kommt nun ein dritter hinzu. Er umfasst stark steigende Emissionen aus Wäldern, Mooren, Äckern und Grünland, also aus der Landnutzung. Die im vergangenen Oktober veröffentlichte Bundeswaldinventur, die den Zustand des Waldes bis Ende 2022 erfasst, habe die Landnutzungs-Bilanz "drastisch geändert", stellt der Expertenrat dazu fest.
Vor der Waldinventur sei angenommen worden, dass von 2018 bis 2022 durch die Landnutzung insgesamt nur elf Millionen Tonnen CO2 emittiert wurden – im Ergebnis der Inventur betrage diese Menge aber 370 Millionen Tonnen, rechnet das Gutachten vor. 2023 entsprachen die Emissionen aus der Landnutzung damit schon etwa zehn Prozent der gesamten Emissionen Deutschlands.
Der Expertenrat fordert hier eine rasche Umkehr, sonst werde das Klimaziel auf jeden Fall weit verfehlt. Das Klimagesetz verlangt sogar, dass der Bereich Landnutzung ab 2030 jährlich 25 Millionen Tonnen CO2 speichert und damit die deutsche Klimabilanz entlastet.
"Soziale Ungleichgewichte"
Der Expertenrat plädierte am Mittwoch für ein neues Herangehen an Klimapolitik. Diese müsse stärker in andere Politikfelder "eingebettet" sein. "Klimapolitik kann nicht mehr isoliert, sondern muss breiter gedacht werden", erklärte die Vizechefin des Gremiums, die Physikerin Brigitte Knopf.
Moniert wird vom Klimarat ein "soziales Ungleichgewicht" bei den Klimamaßnahmen. So werde Energiearmut in Deutschland unzureichend berücksichtigt, merkt das Gutachten an.
Bisher seien in einigen Bereichen vor allem einkommensstarke Haushalte gefördert worden, kritisierte Brigitte Knopf. Als Beispiele nannte sie die Gebäudeförderung oder den Umweltbonus für E‑Autos. Ein Gegenmodell sei hier das "Social Leasing" von E‑Autos, wie es in Frankreich praktiziert wird.
Die Klimaexpertin wies auch darauf hin, dass untere und mittlere Einkommen stärker von steigenden CO2-Preisen betroffen sind. Das werde sich ab 2027 mit der Einführung des europäischen Emissionshandels für Gebäude und Verkehr verstärken.
Brigitte Knopf hält hier ausgebaute Unterstützungen und Kompensationen für erforderlich. Der Klimarat zählt dazu nicht nur ein Klimageld, sondern auch den Ausbau einer klimafreundlichen Infrastruktur, sozial gestaffelte Förderprogramme oder direkte Finanzhilfen.
Keine Rücknahme des Heizungsgesetzes erwartet
Eine Rücknahme des lange umstrittenen Heizungsgesetzes nach der Wahl erwartet der Rat nicht. Diese Absicht halte er für "gefährlich", sagte Expertenrats-Chef Hans-Martin Henning. Das Gesetz stelle inzwischen ein "Gesamtpaket" dar, das zusammen mit der kommunalen Wärmeplanung "in sich stimmig" sei. Zwar könne die Ablösung fossiler Heizungen noch hinausgezögert werden, am Ende des Tages brauche es aber eine treibhausneutrale Alternative, erklärte der Energiesystemforscher.
Zudem geht das Gesetz auf europäische Regeln wie die Gebäuderichtlinie zurück und ist Teil ihrer einzelstaatlichen Umsetzung, wie Brigitte Knopf ihrerseits betonte. Eine Abschaffung des Heizungsgesetzes wäre so europarechtlich nicht kompatibel.
Der Expertenrat wies auch Forderungen zurück, die Klimapolitik aus wirtschaftlichen Erwägungen abzuschwächen. "Wir dürfen die strukturellen und konjunkturellen Probleme der Gegenwart nicht ausschließlich aus den Maßnahmen der Treibhausgas-Minderungspolitik ableiten", betonte Thomas Heimer vom Expertenrat dazu am Mittwoch.
Zwar würden sich, so der Ökonom, aus der Klimapolitik Erschwernisse wie zum Beispiel beim Strompreis ergeben, aber eben auch die Marktführerschaft in innovativen und nachhaltigen Branchen wie der Windenergie. "Wir müssen schauen, wo die Weltmärkte der Zukunft liegen, die durch deutsche Unternehmen und damit deutsche Arbeitsplätze bedient werden können", sagte Heimer.
Hans-Martin Henning regte in dem Zusammenhang eine Diskussion über die Zukunft der energieintensiven Industrie in Deutschland an. Es stelle sich die Frage, wo in Deutschland in den nächsten zehn, zwanzig Jahren Wertschöpfung stattfinde und wo diese vor dem Hintergrund der Klimatransformation gestärkt und ausgebaut werden solle. Das müsse letztlich in eine Gesamtstrategie fürs Land münden, so Henning.
Für die künftige Klimapolitik empfiehlt der Expertenrat, einen zentralen Koordinierungsmechanismus einzurichten, zum Beispiel das Klimakabinett wieder einzuführen. Das sei eine "vielversprechende" Option, die die Gesamtverantwortung der Regierung widerspiegle, erklärte Ratschef Henning. Vorstellbar ist für den Expertenrat auch ein stärkeres Einbeziehen zivilgesellschaftlicher Gruppen in die Zukunftsdebatten.
Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Blaupause für die neue Regierung