"Alarmstufe Rot für die Menschheit": Die Warnung der Vereinten Nationen vor den Folgen der Erderwärmung zeigt das ganze Ausmaß der Erwartungen, die sich an den Weltklimagipfel COP 26 in Glasgow richten.
Wissenschaftler befürchten, dass wir uns Wendepunkten nähern, die die Lebensgrundlagen auf der Erde radikal ändern könnten. Eine niederschmetternde Prophezeiung, zumal die CO2-Emissionen nach einem Corona-bedingten Rückgang schon auf das nächste Rekordhoch zusteuern.
Dem steht aber eine erfreuliche Tatsache gegenüber: "Netto null" – eine klimaneutrale Welt – scheint mit größter Kraftanstrengung zumindest technologisch erreichbar.
Der Umweltpionier Bertrand Piccard beispielsweise hat dafür über tausend Lösungen zusammengetragen, machbar und profitabel. Auf der Glasgower Klimakonferenz im November will er sie vorstellen. Hier müssen wir prinzipiell für alles offen sein.
Vor allem aber muss klar sein: Mit der Reduzierung von Emissionen allein ist es nicht getan.
Das gilt besonders für die Industrie, die etwa in Deutschland für fast ein Viertel aller Treibhausgasemissionen steht. Denn für einige Sektoren ist es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, den Ausstoß von CO2 komplett zu vermeiden: etwa Zement, Düngemittel oder Stahl. Hier sind zusätzlich andere Ansätze nötig.
Der derzeit verbreitetste Gedanke ist, das ausgestoßene CO2 wieder einzufangen. Das Spektrum an Ideen ist groß. Zum Beispiel mehr Bäume pflanzen und Moore regenerieren, die CO2 aufnehmen. Freilich auf die Gefahr hin, dass es durch Dürren oder Brände irgendwann doch wieder freigesetzt wird. Oder CO2 in den Ozeanen bunkern – was allerdings den Nebeneffekt hätte, dass das Meerwasser noch saurer würde.
All die kühnen Geoengineering-Ideen haben ihr Für und Wider, sollten aber ernsthaft berücksichtigt werden. Allein auf dem Weg in die Wasserstoffwirtschaft könnten wir darauf angewiesen sein. Etwa wenn es darum geht, als Brückentechnologie "blauen" Wasserstoff aus Erdgas herzustellen und das anfallende Kohlendioxid dauerhaft einzulagern.
CO2 als Freund und Helfer
Aber ich finde, wir müssen noch in eine ganz andere Richtung denken: CO2 nicht nur als den Feind betrachten, den wir partout loswerden und wegsperren sollen. Sondern es in gewisser Weise auch als eine Art Freund und Helfer sehen.
Wir können mit dem Abgas, das den Fabrikschloten entweicht, nämlich auch etwas anfangen – indem wir es als umweltgerechten neuen Rohstoff nutzen. Für Baumaterialien beispielsweise, für Kunststoffe, für viele wichtige Grundchemikalien wie etwa Methanol, um nur einige Einsatzmöglichkeiten zu nennen.
Die Fachwelt spricht von Carbon Capture and Utilization (CCU): eine Möglichkeit, die zunehmend Befürworter findet. In der breiten Öffentlichkeit scheint dieser Gedanke allerdings noch nicht recht angekommen zu sein. Ein Grund mehr, das Recycling von CO2 auf dem Klimagipfel im November ins Rampenlicht zu rücken.
Die Politik hat das Potenzial von CCU vielerorts durchaus schon erkannt. So fördert etwa die deutsche Regierung seit langem zahlreiche entsprechende Forschungsvorhaben, und auch im European Green Deal spielt CO2-Recycling eine Rolle. Nun gilt es die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern: etwa sehr viel preiswerten Ökostrom bereitzustellen und die CO2-Emissionskosten so zu gestalten, dass CCU wettbewerbsfähig wird.
Wissenschaft und Wirtschaft jedenfalls haben hohe Erwartungen an diese Basistechnologie und treiben sie voran. In der Global CO2 Initiative etwa, einem Expertennetzwerk der Universität Michigan in den USA. Oder bei CO2 Global Europe in Brüssel, einem Zusammenschluss zahlreicher Forschungseinrichtungen und Firmen. Alle sind sich einig: Hier ist der Stein, der das Klimaschutz-Puzzle komplett macht.
Produkte aus CO2 statt aus Erdöl
Ganz besonders ist CCU ein Thema für die Chemie- und Kunststoffindustrie. Sie braucht für ihre Produkte unbedingt Kohlenstoff, und den holt sie sich bislang aus fossilen Quellen wie Erdöl. Mit der Folge, dass die Branche für rund sieben Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes steht.
Markus Steilemann
ist Chemiker und seit 2018 Vorstandsvorsitzender der Covestro AG. Das Leverkusener Unternehmen ging 2015 aus der Kunststoffsparte von Bayer hervor, wo Steilemann seit 1999 tätig war.
Das macht klar: Auf dem Weg zur Klimaneutralität muss der Kohlenstoff jetzt aus anderen, emissionsfreien Quellen kommen. Recycelter Plastikabfall, Biomasse – und eben CO2. Inzwischen gelangen zunehmend Kunststoffe auf den Markt, die teilweise aus Kohlendioxid statt Erdöl bestehen: Matratzen, Autositze, Sportböden, Textilfasern und vieles mehr.
Nicht nur etablierte Unternehmen, auch immer mehr Start-ups in aller Welt setzen CO2 in der Produktion ein. Dabei nehmen sie sich die Natur zum Vorbild. Denn Pflanzen machen es uns seit Abermillionen von Jahren vor – indem sie Kohlendioxid und Wasser mit Sonnenenergie in Zucker und Sauerstoff umwandeln. Ein junges Unternehmen aus Finnland beispielsweise, Solar Foods, kann so ein Proteinpulver erzeugen, das als Nahrungsergänzungsmittel dienen soll.
Bislang stammt das verwendete CO2 vor allem aus Produktionsabgasen. Das bewirkt zwar, dass die Emissionen nicht weiter zunehmen, macht die CO2-Gesamtmenge in der Atmosphäre aber auch nicht kleiner. Doch inzwischen kann man das Gas direkt der Umgebungsluft entziehen – auch hier schreiten Pionierfirmen voran.
Wie viel CO2 sich durch CCU in Zukunft nutzen lässt, kann man momentan nur schätzen. Die gegenwärtige Jahresmenge wird von der Internationalen Energieagentur IEA auf etwa 40 Millionen Tonnen veranschlagt. Das Potenzial reicht Experten zufolge von 100 Millionen bis 15 Milliarden Tonnen pro Jahr. In Relation zu den rund 35 Milliarden Tonnen, die derzeit jährlich in die Atmosphäre ziehen, also unter Umständen richtig viel.
Zusammen mit der konsequenten Hinwendung zur Kreislaufwirtschaft bietet sich hier jedenfalls eine Option, die wir für "netto null" unbedingt weiterverfolgen sollten.