Die jüngste Analyse des Beratungsunternehmens Aurora Energy Research im Auftrag des Energiekonzerns EnBW hat medial viel Aufmerksamkeit erhalten. Zeitlich geschickt im Umfeld der Koalitionsverhandlungen platziert, scheint der vorgestellte "Systemkostenreduzierte Pfad zur Klimaneutralität im Stromsektor 2040" tatsächlich ein relevanter Diskussionsbeitrag zu einer "Neuausrichtung" der Energiepolitik zu sein.

Das Problem ist: Weder lässt die Untersuchung methodisch den Schluss zu, dass die Energiewende bis 2045 wirklich bis zu 700 Milliarden Euro günstiger werden könnte, noch werden die entscheidenden Prämissen offengelegt, mit denen das Ergebnis gerechnet wurde. Damit erscheinen die zentralen Schlussfolgerungen der Studie eher als Postulate, denn als tatsächliche Diskussionsbeiträge. Es gibt mehrere Kritikpunkte:

 

Zunächst werden die modellprägenden Prämissen nicht offengelegt. Das Ergebnis einer jeden Modellierung hängt aber davon ab, welche Eingangs-Parameter man verwendet. Welche künftige Entwicklung bei den Investitions- und den Betriebskosten von Solar- und Windkraftwerken wird angenommen? Wie sieht das bei Batteriespeichern, Elektrolyseuren, Gaskraftwerken oder der CO2-Abscheidung und -speicherung (CCS) aus?

Welche Fahrweisen und Auslastungen der Anlagen werden unterstellt? Welche Einnahmen lassen sich aus künftigen Kapazitätsmärkten erzielen? Werden günstige Flexibilitätsoptionen berücksichtigt und in welchem Umfang? Welche Rolle spielen in Zeiten geopolitischer Umbrüche Resilienz und Importabhängigkeit bei den angenommenen Szenarien?

"Blauer" Wasserstoff soll mehrere zehntausend Megawatt antreiben

Die Liste der offenen Fragen ist lang. Und die Antwort auf jede einzelne hat massive Auswirkungen auf das Modellierungsergebnis.

So geht das EnBW-Aurora-Modell von großen zusätzlichen thermischen Kraftwerks-Kapazitäten im Jahr 2045 aus. 55.000 Megawatt Gaskraftwerke sollen mit "blauem" Wasserstoff betrieben werden. Dieser wird aus Erdgas unter Abscheidung und Speicherung von CO2 (CCS) hergestellt.

Allerdings werden dazu keine das Modell prägenden Annahmen offenlegt – schon gar nicht zu Kosten und Auslastung der offensichtlich bevorzugten neuen Gaskraftwerke.

Die Studie muss sich damit den Vorwurf gefallen lassen, eine vornehmlich interessengeleitete Betrachtung zu sein. Wer künftig viel Gasgeschäft in zentralen Kraftwerken möchte, sollte dieses Szenario zugrunde legen.

Interessanterweise gibt die Studie zudem an, dass der Einsatz von Erdgaskraftwerken mit CCS günstiger sei als der von Wasserstoffkraftwerken. Dies wurde im Finalszenario jedoch nicht eingerechnet. Auch der EnBW-Vorstandsvorsitzende Georg Stamatelopoulos hat sich in den letzten Tagen wiederholt gegen CCS bei Gaskraftwerken ausgesprochen, diese seien "extrem teuer".

Weiterer Kritikpunkt: Die Effekte der Massenproduktion besonders von Photovoltaik und Batterien werden unterschätzt. Traditionell tun sich Fundamentalmodelle schwer, die Entwicklung technischer Innovationen abzubilden. So werden weltweit und seit Jahrzehnten die Skalierungseffekte und Kostensenkungen der erneuerbaren Energien systematisch unterschätzt. Das gilt erst recht für die regelrechte Implosion der Kosten von Batteriespeichern bei gleichzeitiger Explosion des Speichervolumens.

Effekte industrieller Massenfertigung unterschätzt

Beides beruht auf Skaleneffekten einer industriellen Massenfertigung, die in der konventionellen Energiewirtschaft bisher unbekannt waren. Die systematische Unterschätzung der Entwicklung der Photovoltaik durch die Internationale Energieagentur IEA ist längst zum Running Gag in der globalen Energiewelt geworden.

Im selben Maße überschätzen nationale und internationale Institutionen systematisch die Entwicklung der zentralisierten Kraftwerkstechnologie. Die hier über Größenwachstum möglichen Kosteneffekte scheinen nach über hundert Jahren Technologieentwicklung ausgereizt. Bei der Atomenergie sind sie sogar ins Negative gedreht, das heißt, der Strom aus neuen Anlagen wird immer teurer.

Tim Meyer

hat Elektro­technik studiert und am Fraunhofer-Institut für Solare Energie­systeme (ISE) promoviert. Nach Tätigkeiten in der Fraunhofer-Gesellschaft, der Industrie und als Gründer im Solar­strom­markt war er zuletzt Vorstand bei der Natur­strom AG. Heute ist er als Berater und Interims­manager für Energie­unter­nehmen tätig.

Und dennoch nimmt das Aurora-Modell an, ein Ersatz von 70.000 Megawatt Batteriespeichern durch 20.000 Megawatt Gaskraftwerke würde die Systemkosten um jährlich fünf Milliarden Euro senken. Glauben die Autoren ernsthaft, dass bis 2045 in Deutschland pro Jahr im Schnitt nur 3.000 Megawatt neue Batterieleistung installiert werden, und das trotz der genannten Kostenimplosion und der weiteren Technologieentwicklung?

Zum Vergleich: Allein in den letzten zwölf Monaten wurden hierzulande etwa 4.000 Megawatt neue Batteriespeicher installiert, und das rein marktlich wohlgemerkt, also ohne staatliche Förderung. Warum und wie sollte dieser Zuwachs gebremst werden?

Weiter unterschätzt die Studie die Dynamik von Innovationen bei neuen Geschäftsmodellen. In einer Marktwirtschaft sind Preissignale der stärkste Treiber für Innovation und Wachstum. Und die gibt es im Strommarkt derzeit reichlich: Der tägliche Spread – die Differenz zwischen niedrigstem und höchstem Strompreis im Großhandel – betrug 2024 im Schnitt über 120 Euro pro Megawattstunde. Wer seine Last beim Stromverbrauch flexibilisiert, spart bares Geld.

Milliarden Kilowattstunden rollender Energiespeicher

Daher findet genau das gerade an vielen Stellen statt, machen sich etablierte Unternehmen und Start-ups daran, Flexibilität als "neues Gold" des Strommarktes zu heben.

Das ist nicht schwer: Schon wer einen Batteriespeicher einmal am Tag zu den richtigen Zeiten be- und entlädt, kann im kurzfristigen Handel am Strommarkt ordentliche Erlöse erzielen. Hinzu kommen noch Erlöse aus dem Bereitstellen von Regelenergie oder die Optimierung von Netzentgelten.

Auch diese "softeren" Innovationen können Fundamentalmodelle traditionell nicht gut abbilden. Selbst neue Geschäftsmodelle, die schon klar absehbar sind, wie der künftige Einsatz der E‑Autos als flexible Batteriespeicher (Vehicle-to-Grid, V2G), werden von vielen Modellen noch gar nicht berücksichtigt.

Und dabei werden 2045 bei einem angenommenen Bestand von immer noch 40 Millionen Pkw mit je 50 Kilowattstunden Batteriespeicherleistung allein auf diese Weise zwei Milliarden Kilowattstunden rollende Energiespeicher auf unseren Straßen stehen, wohlgemerkt stehen, denn 23 Stunden am Tag fahren Autos nicht.

Wenn nur zehn Prozent dieser E‑Fahrzeuge einen Zusatzerlös als flexible Stromspeicher anbieten, kommen so immerhin 200 Millionen Kilowattstunden zusammen. Bis 2045 sollte der dazu notwendige Rollout intelligenter Smart Meter doch endlich geklappt und neue Geschäftsmodelle ermöglicht haben.

Strompreis von 12,9 Cent pro Kilowattstunde?

Darüber hinaus erscheint das EnBW-Aurora-Modell methodisch inkonsistent. Was ist damit gemeint?

Die Autoren nutzen als "Referenzszenario" den geltenden Netzentwicklungsplan Strom, Szenario B. Anhand des Mengengerüstes dieses Szenarios zur Entwicklung des Kraftwerksparks, einiger grober Parameter der Verbrauchsentwicklung et cetera werden dann mit eigenen Annahmen zu Investitions- und Betriebskosten die erwarteten Strompreise im Großhandel ermittelt.

Batteriestromspeicher werden immer besser und billiger. (Bild: Enyavar/​Wikimedia Commons)

Bis 2045 soll der Strompreis – ohne Inflation – auf durchschnittlich 129 Euro pro Megawattstunde steigen. Das wäre tatsächlich teuer. Doch kann sich ein solcher Preis überhaupt einstellen? Das ist doch fraglich.

Im Jahr 2019 kostete Strom an der Börse im Schnitt 38 Euro pro Megawattstunde. Davon wich der tägliche Höchst- und Tiefstpreis im Schnitt um etwa 30 Euro ab. Anders gerechnet: Die relative Spreizung des Strompreises im Großhandel lag bei etwa 80 Prozent. Das war in etwa auch in den Vorjahren so.

Nach einem Ausflug der relativen Spreizung auf etwa 200 Prozent ab Mitte 2024 ging diese 2025 wieder auf 100 Prozent zurück. Das heißt: Im Schnitt schwankt der Preis jeden Tag um 100 Prozent des Durchschnittspreises. In absoluten Zahlen sind das gegenwärtig umgerechnet etwas mehr als 110 Euro pro Megawattstunde an jedem Tag.

Die Höhe der täglichen Preisschwankungen hängt dabei stark vom verfügbaren Angebot an erneuerbaren Energien ab. Ist deren Angebot groß, ist der Strompreis niedriger. Ist es gering, ist der Preis hoch aufgrund der hohen Gaspreise und der Merit-Order-Regel, wegen der die teuersten Anlagen den Strompreis bestimmen. Wie stark der Strompreis im Verlauf eines Tages schwankt, hängt also vom Wetter ab.

Große Preisschwankungen ermöglichen neue Geschäftsmodelle

Auch künftig kann in einem weitgehend erneuerbaren Energiesystem der Strompreis täglich stark schwanken, zum Beispiel, weil statt Erdgas teurer grüner Wasserstoff zum Einsatz kommt und weil eben noch deutlich mehr Wind- und Solarkraftwerke gebaut werden.

Nehmen wir also an, die preisliche Spreizung liegt auch im Jahr 2045 bei 100 Prozent des Durchschnittspreises im Strommarkt. Wenn dieser dann – wie im erwähnten Referenzszenario – 129 Euro pro Megawattstunde betragen würde, könnten Flexibilitätsanbieter mit der entsprechenden Batterie jeden Tag 129 Euro pro Megawattstunde verdienen.

Das wäre mehr, als heute möglich ist. Und Flexi-Anbieter könnten auch 2045 noch so wie heute weitere Erlöse aus anderen Quellen im Strommarkt erzielen. Zugleich dürften die Batteriepreise bis 2045 nochmals auf einen Bruchteil ihres heutigen Wertes fallen.

Die Gretchenfrage lautet also: Wie kann es sein, dass der Markt im EnBW-Aurora-Referenzmodell für das Jahr 2045 nicht mit Batterien überschwemmt wird, nach all der weiteren Kostensenkung und Innovation der kommenden 20 Jahre?

Anders gesagt: Sind sich die Modellierer sicher, dass ihre Annahmen zu Investitionskosten neuer Technologien mit ihren Ergebnissen zu Marktpreisen und deren Schwankungen zusammenpassen?

 

Fazit: Niemand bezweifelt, dass der heutige Pfad der Energiewende und ihre Regulierung optimiert werden können und müssen. Doch die in der EnBW-Aurora-Studie genannten Einsparungen von 300 bis 700 Milliarden Euro fallen mehr oder weniger vom Himmel. Sie sind nicht nachvollziehbar hergeleitet, im Gegenteil erscheinen sie an mehreren Stellen unplausibel. Die Autoren sollten sich daher einer Überprüfung durch externe Fachleute öffnen.

Gleichzeitig sollte sich die Energiewirtschaft endlich auch einem in der Studie nicht angesprochenen, aber auch für sie selbst unangenehmen Kostenhebel öffnen: der Reduktion von Struktur- und Prozesskosten für alle Marktteilnehmer durch vereinfachte Verfahren und Meldeprozesse, durch klare und einheitliche Strukturen im Verteilnetz und durch digitale Geschäftsprozesse.

Wer die Energiewende wirklich günstiger machen will, setzt hier an – und nicht bei der Planung von großen Mengen Gaskraftwerken.

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