Ein Mann hält in der Dunkelheit ein brennendes Streichholz hoch und schaut dich ängstlich an.
"Was man zu verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr" – Marie Curie. (Foto: Javier Ortiz/​Shutterstock)

"Es droht eine vollkommene Überlastung des Stromnetzes im Herbst und Winter sowie eine mangelhafte Versorgung mit Strom." So unkt der selbsternannte Energieexperte und CDU-Chef Friedrich Merz Anfang September 2022 in der Bild am Sonntag. Schuld sei die Regierung, die am Atomausstieg festhält.

"Habeck und die Ampel riskieren bewusst einen Blackout", sekundiert der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und fordert eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke bis mindestens 2024.

Auch die FDP, Teil der Ampel-Regierung, fordert, die AKW wegen vermeintlicher Stromknappheit weiterlaufen zu lassen. Viele Menschen sind verunsichert, Stromgeneratoren und Kurbelradios gehen weg wie warme Semmeln.

Dabei halten Expert:innen, unter anderem die Bundesnetzagentur, einen unkontrollierten, großflächigen Stromausfall weiterhin für äußerst unwahrscheinlich. Deutschlands Energiesystem sei eines der sichersten der Welt und das Risiko eines Blackouts nicht höher als in den Vorjahren.

Wenn man ihn genau liest, gibt selbst der verschärfte zweite Stresstest, den die vier Übertragungsnetzbetreiber Anfang September veröffentlichen, Entwarnung: Die Stromversorgung ist selbst unter sehr extremen Annahmen sicher. So unterschlägt der Stresstest laut der Kraftwerksliste der Bundesnetzagentur vorhandene regelbare Kraftwerke mit einer Gesamtkapazität von bis zu 17.000 Megawatt – ein Vielfaches dessen, was die AKW 2023 noch bereitstellen können.

Doch der öffentliche Druck ist längst so groß, dass auch die Grünen-Spitze aus politischen Gründen bereit ist, den Abschalttermin 31. Dezember 2022 aufzugeben und einem mehrmonatigen "Streckbetrieb" mit den vorhandenen Brennelementen zuzustimmen. Weshalb auch führende Grüne nun in das Lied vom angeblichen Strommangel einstimmen.

Von Krankenhäusern, die "nicht mehr arbeiten können", redet Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Der Weiterbetrieb von zwei Atomkraftwerken könne "notwendig" sein, um drohende stundenweise Lastunterdeckungen abzumildern, behauptet Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Als klar ist, dass diese Behauptungen nicht tragen, schwenkt die Grünen-Spitze um. Statt Strommangel führt sie nun ein angebliches "Netzstabilitätsproblem" als Argument für den Weiterbetrieb der AKW bis April an. Tatsächlich tritt dies laut Stresstest nur in Situationen auf, in denen sehr viel Strom im Angebot ist – und nur, wenn mehr Strom ins Ausland verkauft wird, als es dafür Leitungen gibt. Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist davon nicht betroffen.

Der Weg für einen Weiterbetrieb ist damit frei, die Details regelt im Oktober das "Kanzler-Machtwort" von Olaf Scholz (SPD): Alle drei AKW sollen, soweit ihr Brennstoffvorrat dies zulässt, bis zum 15. April am Netz bleiben.

Stimmungsmache für Atomkraft

Es ist nicht das erste Mal, dass die Atomlobby mit Geschichten von angeblich drohenden Blackouts und Versorgungssicherheitsproblemen Stimmung macht. Im Dezember 1973 passiert zum Beispiel das "Vierte Atomprogramm" den Bundestag. Innerhalb eines Jahrzehnts soll die Gesamtkapazität der Atomenergie auf bis zu 50.000 Megawatt ausgebaut werden, das entspricht rund 50 Reaktorblöcken.

Die Politik macht Druck, der Widerstand bei den Menschen wächst. Eines der ersten AKW ist in Wyhl am Kaiserstuhl geplant, fast 100.000 Einwendungen gehen dagegen ein. Um den Widerstand zu überwinden, empfiehlt eine vom Badenwerk (heute EnBW) beauftragte Hamburger Werbeagentur eine "Dramatisierung aller Probleme, die durch den Nichtbau von Kernkraftwerken entstehen".

Als Atomkraftgegner:innen im Februar 1975 den Bauplatz im Wyhler Wald besetzen, behauptet der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU) in einer Regierungserklärung: "Ohne das Kernkraftwerk Wyhl werden zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen."

Porträtaufnahme von Anna Stender.
Foto: privat

Anna Stender

ist studierte Fach­übersetzerin mit dem Schwer­punkt Technik. Seit 2020 ist sie Redakteurin bei der Anti-Atom-Organisation Ausgestrahlt in Hamburg. Ihr Beitrag erscheint auch im Ausgestrahlt-Magazin.

Nach der partiellen Kernschmelze im AKW Three Mile Island bei Harrisburg (USA) im März 1979 nimmt der Widerstand gegen Atomkraft weiter zu.

Und wie als Vorgeschmack darauf wird zwei Wochen später, am 12. März, in den Gemeinden am Kaiserstuhl der Strom abgestellt – just während des Fußballländerspiels Deutschland gegen England. Angeblich gab es ein Problem in einem Umspannwerk. Das Atomkraftwerk Wyhl wird bekanntlich nie gebaut. Die Lichter bleiben trotzdem an.

Das Deutsche Atomforum (heute KernD), die Lobbyorganisation der Atomindustrie, produziert Aufkleber mit dem Aufdruck "Atomkraftgegner überwintern bei Dunkelheit mit kaltem Hintern", darunter sind überkreuzte steinzeitliche Werkzeuge abgebildet. In einer Zeit, in der sich viele noch an den Mangel der Kriegs- und Nachkriegsjahre erinnern, warnen Zeitungsanzeigen, bei einem Verzicht auf Atomkraft müsse man künftig "bei Kerzenlicht kalte Dosennahrung im Wintermantel verzehren".

Erst im Juni 2000, 14 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl, einigen sich SPD und Grüne im "Atomkonsens" mit den AKW-Betreibern auf Reststrommengen, die die Meiler noch erzeugen dürfen. Sie sind so üppig bemessen, dass nur zwei unrentable Reaktoren in den folgenden Jahren vom Netz gehen.

Vor der Bundestagswahl 2009 wittert die Atomlobby dann die Chance, den "Konsens" zu brechen und weitere Abschaltungen von AKW zu verhindern. Die Unternehmensberatung PRGS erstellt dafür 2008 für den Betreiberkonzern Eon ein Strategiepapier. Erklärtes Ziel ist es, "die politisch-öffentliche Debatte um die Verlängerung der Restlaufzeiten deutscher Kernkraftwerke positiv zu beeinflussen."

Um politische Gegner nicht auf den Plan zu rufen, soll Eon sich mit direkten Forderungen zurückhalten und stattdessen unter anderem das Thema Versorgungssicherheit hervorheben. Sinnvoll dafür sei "viel 'Aufklärungsarbeit' mit den Medien beziehungsweise diskrete PR", so das Papier.

Auch das Deutsche Atomforum lässt von einer Kommunikationsagentur eine entsprechende Strategie erarbeiten. CDU, CSU und FDP machen sich die Forderungen nach ihrem Wahlsieg zu eigen, im Dezember 2010 sprechen sie allen AKW Stromproduktionsrechte für durchschnittlich weitere zwölf Jahre zu.

Leere Drohungen

Der Super-GAU von Fukushima drei Monate später und die großen Anti-Atom-Proteste wenden das Blatt wieder. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verhängt ein Moratorium, acht AKW müssen ihren Betrieb einstellen, die gerade erst beschlossene Laufzeitverlängerung soll wieder zurückgenommen werden.

Die Atom-Konzerne ziehen die bekannte Karte – und warnen vor angeblich drohenden Stromausfällen im Winter: Der "Handlungsspielraum und die verfügbaren Werkzeuge zur Erhaltung der Systemstabilität" sei "weitgehend erschöpft", schreiben die Übertragungsnetzbetreiber, darunter die EnBW Transportnetze und die RWE-Tochter Amprion, in einem Memorandum. Als Folge steige das Risiko für großflächige Versorgungsausfälle.

RWE-Chef Jürgen Großmann droht kurz nach der Bundestagsentscheidung in einer Rede vor kommunalen Aktionären: "Um einen bundesdeutschen Blackout zu vermeiden, kann es notwendig sein, einzelne Regionen in Süddeutschland – etwa in der Größe des Großraums Stuttgart – dunkel zu schalten." Selbstverständlich bleiben auch im Winter 2011/​2012 alle Lichter an.

Die Geschichte der Blackout-Märchen ist ein Lehrstück darüber, wie durch "Storytelling" politische Entscheidungen beeinflusst werden. Und die Drohung mit angeblichen Stromausfällen bleibt – wie auch die Entscheidung zum Streckbetrieb bis April 2023 zeigt – das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, Pro-Atom-Entscheidungen durchzusetzen.

Die Wahrheit ist: Der Stresstest hat schon im vergangenen September gezeigt, dass selbst unter Extrembedingungen die Stromversorgung auch ohne AKW gesichert ist. Hätte Kanzler Olaf Scholz sein "Machtwort" nicht gesprochen, würde heute keines der drei AKW mehr laufen. Denn Habecks Plan war, im Dezember anhand der sieben im Stresstest untersuchten Bedingungen zu prüfen, ob im Winter tatsächlich ein Strommangel droht.

Und laut Bundesnetzagentur ist nur eine einzige dieser ungünstigen Bedingungen eingetreten: eine erhöhte Stromnachfrage aus Frankreich aufgrund der massiven Ausfälle der dortigen AKW. Für die Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland ist das jedoch kein Problem. (Selbst Frankreich konnte kontrollierte, stundenweise regionale Stromabschaltungen bisher verhindern.)

Stattdessen ist der Streckbetrieb bis Mitte April eine Steilvorlage für CDU/CSU und FDP, weiter eine Scheindebatte um Laufzeitverlängerungen zu führen, statt sich den wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Zum Beispiel der, wie die Energiewende endlich in dem nötigen Tempo vorangebracht werden kann, damit auch der Kohleausstieg Fahrt aufnimmt.

Anzeige