Atomkraftwerk am Rheinufer vor dramatischem Himmel
Eigentlich ein Auslaufmodell: Atomkraftwerk am Rhein. (Foto: Markus Distelrath/​Pixabay)

Die World Nuclear Association (WNA) darf sich freuen. Der neue Bericht der Internationalen Energieagentur IEA zur "Atomenergie in einer sauberen Energie-Zukunft" ist ganz nach dem Geschmack der Lobbyorganisation der Atomwirtschaft, die sich die "Förderung der Akzeptanz der Kernenergie" auf ihre Fahnen geschrieben hat.

Ein "unvoreingenommener Blick darauf, wie das optimale Energiesystem aussehen soll", sei nötig, sagte WNA-Chefin Agneta Rising in einer ersten Reaktion auf den IEA-Report – und zwar im Hinblick auf "unsere Umwelt-, Wirtschafts- und Nachhaltigkeitsziele". Zugleich forderte Rising, die zuvor beim schwedischen Staatskonzern Vattenfall für Nuklearaktivitäten zuständig war, mehr Anstrengungen, um den Anteil der Atomkraft am weltweiten Energiemix zu erhöhen.

Das ist auch die Quintessenz des 100-seitigen Papiers "Nuclear Power in a Clean Energy System – A key source of low-carbon power", das die IEA in dieser Woche veröffentlicht hat. Nach eigenen Angaben ist es das erste Mal seit fast 20 Jahren, dass sich die Agentur mit "diesem wichtigen Thema" beschäftigt und es "zurück in die globale Energie-Debatte" bringt.

In die Atomkraft müsse mehr Geld gesteckt werden, lautet die Kernforderung des Reports. Andernfalls stehe der nuklearen Stromerzeugungskapazität vor allem in den Industriestaaten ein "steiler Niedergang" bevor. Dies könne sowohl die Versorgungssicherheit als auch die Klimaziele in Gefahr bringen.

"Ohne einen wichtigen Beitrag der Atomenergie wird die globale Energiewende viel schwieriger", so formuliert es IEA-Chef Fatih Birol.

Derzeit ist die Atomkraft laut Bericht die zweiwichtigste Quelle für eine emissionsarme Stromerzeugung ("low-carbon power source"). Zehn Prozent der globalen Elektrizitätsproduktion steuert sie bei. Nur Wasserkraft liefert mit 16 Prozent mehr.

"Von den privaten Finanzmärkten nicht mehr finanzierbar"

Bis 2025 könnten die Industriestaaten ein Viertel ihrer Atomstromkapazitäten verlieren, bis 2040 sogar zwei Drittel, rechnet die IEA vor. Der Grund: Atomenergie wird immer teurer und unrentabler.

In Frankreich beispielsweise ist der Atomkonzern EdF so in Bedrängnis geraten, dass die Regierung nun die Atomsparte ausgliedern und verstaatlichen will – weil sie, wie die FAZ schreibt, "von den privaten Finanzmärkten nicht mehr finanziert werden kann". Derzeit hält der französische Staat rund 85 Prozent der Aktien des 2004 privatisierten Konzerns.

Im Gegensatz zu vielen Schwellenländern, die neue Meiler planen und errichten, stecken Neubauvorhaben in vielen Industrieländern fest, während gleichzeitig die Kosten explodieren – etwa Olkiluoto 3 in Finnland oder Flamanville 3 in Frankreich.

Gleichzeitig sind viele der laufenden AKWs an das Ende ihrer technischen Laufzeit gelangt. Um sie weiterbetreiben zu können, wären aufwändige Nachrüstungen nötig, und das geht ins Geld.

Deshalb, so fordert es die IEA, sollen die Regierungen mehr tun, um ihre alternden Atomkapazitäten zu erhalten und neue Anlagen zu bauen. Mehr Fördermittel müssten fließen, mithin sei ein "Politikwechsel" erforderlich.

Da stillgelegte Atomkapazitäten häufig mit Kohlekapazitäten ersetzt würden, argumentiert die IEA, sei mit zusätzlichen CO2-Emissionen von vier Milliarden Tonnen zu rechnen.

Dem widerspricht die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW. Atomkraft diene nicht dem Klimaschutz und werde auch nicht zur Vermeidung von Versorgungsengpässen benötigt. Bereits jetzt sei "die weltweit installierte Leistung aller regenerativen Kraftwerke sechsmal größer als die weltweit installierte Leistung aller Atomkraftwerke", so die Organisation.

Experten: Atomkraft macht Klimaschutz unnötig teuer

Im Jahr 2017 hatte ein Team um Claudia Kemfert vom Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgerechnet, dass Atomkraft "unnötig" ist, um das Pariser Klimaziel zu erreichen. Vielmehr seien "kostengünstigere Alternativen verfügbar" – nämlich erneuerbare Energien und Energiespeicher.

Das Fazit der Studie: "Entsprechend kann die Förderung der Atomkraft als kontraproduktiv angesehen werden, auch weil sie die Entwicklung anderer, günstigerer Energien behindern kann. Ressourcen für Forschung und Entwicklung sowie internationale finanzielle Förderung sollten eher in erneuerbare Energien und Speichertechnologien sowie die Möglichkeiten der Sektorenkopplung gelenkt werden."

Die IEA sieht das jedoch anders. Sie traut es den Erneuerbaren nicht zu, die Lücke zu schließen, die beim Abschalten alter Atommeiler entsteht.

Die Begründung: Um das zu schaffen, müsste der Ausbau der Erneuerbaren in den nächsten 20 Jahren auf "ein beispielloses Niveau ansteigen" ("would have to accelerate to an unprecedented level") – nämlich um den Faktor fünf im Vergleich zu den letzten 20 Jahren.

Dies würde, warnt die IEA, eine "ernsthafte Herausforderung an die Integration der neuen Quellen in das allgemeine Energiesystem" mit sich bringen.

Zudem wären bei einem so "drastischen" Ausbau der Erneuerbaren, so die Agentur, in den Industriestaaten zusätzliche Investitionen von 1,6 Billionen US-Dollar nötig – im gesamten Zeitraum von 20 Jahren. Das heißt, umgerechnet wären es 80 Milliarden Dollar pro Jahr.

Welche Summen in die Förderung der Atomkraft fließen müssten, wenn die Regierungen den Ratschlägen der IEA folgen, beziffert sie nicht. Da die Agentur auch Neubauten empfiehlt, muss man davon ausgehen, dass es teuer würde. Olkiluoto 3 dürfte rund zehn Milliarden Euro verschlingen, Flamanville 3 ebenfalls, Hinkley Point in Großbritannien könnte mehr als 20 Milliarden kosten.

IEA-Prognosen für Erneuerbare lagen immer falsch

Allerdings ist die IEA seit Langem dafür bekannt, das Potenzial der erneuerbaren Energien systematisch zu unterschätzen. Jahr für Jahr muss sie ihre Prognosen nach oben korrigieren. Der weltweite Photovoltaik-Ausbau etwa war innerhalb von zwei bis drei Jahren so stark, wie ihn die IEA eigentlich für 20 Jahre erwartet hatte.

Zwar hat die IEA ihre Prognosen etwas verbessert. Doch die extrem gesunkenen Kosten für erneuerbare Energien werden nach wie vor nicht ausreichend berücksichtigt.

Gerade hat die Internationale Agentur für Erneuerbare Energien (Irena) neue Zahlen vorgelegt. Demnach sind Wind, Sonne und Co "bereits heute in weiten Teilen der Welt die billigste Stromquelle", heißt es in dem Report "Renewable Power Generation Costs in 2018".

Laut Bericht fielen die Kosten für die Erneuerbaren letztes Jahr auf ein "Rekordtief". Für Solarthermie sanken die weltweit gewichteten durchschnittlichen Stromgestehungskosten um 26 Prozent, bei Bioenergie um 14 Prozent, bei Photovoltaik und Windkraft an Land (onshore) um 13 Prozent, bei Wasserkraft um zwölf Prozent und bei Erdwärme und Offshore-Windkraft um jeweils ein Prozent.

"Über drei Viertel der Onshore-Windkraft und vier Fünftel der Photovoltaik-Kapazität, die im nächsten Jahr in Betrieb genommen wird, wird Strom zu niedrigeren Preisen erzeugen als die günstigsten neuen Kohle-, Öl- oder Erdgas-Optionen", so die Irena. "Äußerst wichtig dabei ist, dass sie dies ohne finanzielle Unterstützung schaffen werden."

Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert ist Kuratoriumsmitglied bei Klimareporter°.

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