Klimareporter°: Herr Tangermann, in Ihrem Lebenslauf steht, Sie hätten schon als Schüler eine Windkraftanlage gebaut. Wie muss man sich das vorstellen?
Sönke Tangermann: In den 1980er Jahren gab es eine Heftreihe "Einfälle statt Abfälle" von Christian Kuhtz. Er zeigte darin, wie man aus Schrott coole Sachen macht – eine Getreidequetschmaschine beispielsweise oder eine Hausisolation. Ich hatte alle Hefte und habe sie noch.
In einem Heft ging es um den Bau einer kleinen Windkraftanlage. Man hatte einen Zwei-Blatt-Rotor von 2,20 Metern Durchmesser aus Holz zu bauen. Die Rotorspitzen waren mit Kupferfolie zu verstärken, denn das Ding drehte sich sehr schnell. Den Rotor nannte man damals übrigens noch Repeller – als Gegenstück zum Propeller.
Die Anlage hatte auch eine Helikopter-Sturmsicherung. Die sorgte dafür, dass bei zu großem Winddruck die Achse des Rotors aus der Vertikalen in die Horizontale kippte. All das baute ich zusammen mit einem Freund in den Werkräumen unserer Schule, aber außerhalb der Schulzeit.
Und erzeugte der Zwei-Blatt-Rotor auch Strom?
Ja, die Anlage brachte um die 200 Watt Leistung. War ordentlich Wind, drehte sich der Rotor wirklich sehr schnell. Das war nicht ungefährlich.
Ihr Interesse war prophetisch. Heute gilt die Windkraft als das sogenannte Lastpferd der Energiewende. Von der Leistung wie von der Verfügbarkeit her ist die Windenergie die entscheidende Kraft, um von einem fossilen zu einem hundertprozentig erneuerbaren Energiesystem zu kommen.
Die Entwicklung ist fantastisch. In Deutschland sollte ja in den Achtzigern mit dem Growian, der "Großen Windenergieanlage", bewiesen werden, dass Windkraft nicht funktioniert. Mit dem Scheitern des Growian war Windkraft in Deutschland erst mal tot, in Dänemark aber lief sie hoch. Da gab es einen Hersteller von Landmaschinen namens Vestas, der damals begann, Windkraftanlagen so zu bauen, wie wir sie heute kennen.
Der Growian hatte drei Megawatt Leistung, bei Windrädern an Land sind heute fünf Megawatt üblich. Anlagen auf See leisten bis zu 15 Megawatt. Das sind richtige Kraftwerke in luftiger Höhe von 150 und mehr Metern.
2011 haben wir als GPE einen Windpark repowert, der zehn Jahre zuvor aus damaliger Sicht schon mit riesigen Windanlagen bestückt worden war. Die Rotoren der Anlagen, kurz nach der Jahrtausendwende gebaut, hatten 54 Meter Durchmesser. Die wurden dann 2011 durch Anlagen mit 90 Metern Rotordurchmesser ersetzt. Da sagten wir wiederum: "Wow – wie groß ist das denn?"
Und wieder zehn Jahre später sind auch diese Rotoren klein. Bei Wind an Land sind wir jetzt bei bis zu 170 Metern Rotordurchmesser und bei Wind auf See bei über 200 Metern. Die Entwicklung ist noch nicht zu Ende.
Sönke Tangermann
ist Vorstand der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy (GPE) mit Sitz in Hamburg. Der studierte Energietechniker und Jurist hat mehrere Bürgerenergiegesellschaften mitgegründet und geleitet.
Repowering hat ein enormes Potenzial. In Uetersen nördlich von Hamburg haben wir kürzlich den Startschuss für eine erneute Windparkmodernisierung gegeben.
Auf der Fläche des bestehenden Windparks werden wir dort nicht mehr wie bisher sechs, sondern künftig nur noch vier Anlagen haben – mit deutlich größeren Türmen und Rotoren. Die bringen aber fast den vierfachen Ertrag des alten Windparks. Künftig können wir 15.000 Haushalte rechnerisch mit Strom versorgen – vorher waren es nur 4.000.
Mehr erneuerbaren Strom brauchen wir dringend, angesichts des Bedarfs der elektrischen Welt von morgen. Die noch ausstehende Wärmewende ist vor allem eine Wende weg von fossilen Energien hin zur erneuerbaren Stromwelt. Beim Umstieg auf Elektromobilität gilt das Gleiche.
Und auch die Industrie benötigt grünen Wasserstoff. Den können wir nicht in dem Umfang importieren, wie wir ihn brauchen. Auch dafür muss viel hiesiger Windstrom her.
Hatten Sie vor zehn Jahren erwartet, dass Sie Windkraft gegen Leute verteidigen müssen, die nicht fossile Energien, sondern Windparks für den Klimawandel verantwortlich machen oder für zerstörte Landschaften?
Ehrlich gesagt, ja. Das ist nichts Neues.
Wirklich?
Schon auf Bürgerversammlungen vor zehn Jahren wurde mir das vermeintliche Argument der Waldzerstörung entgegengehalten. Oder auch, dass wir die Gegend verspargeln oder alle Vögel umbringen würden. Mit solchen Dingen wurde ich zum Beispiel auf einem FDP-Treffen gegrillt.
Die wenigen Nachteile, die erneuerbare Energien mit sich bringen, hätte ich am liebsten auch nicht. Es gibt aber kein milderes Mittel für Klimaschutz und die künftige Energieversorgung als erneuerbare Energien. In manchen Kreisen verfängt dieses Argument jedoch nicht.
Diese Leute sind dabei von ihrer Kritik selbst oft nicht sehr überzeugt. Der wahre Grund für die Ablehnung der Erneuerbaren liegt für mich eher darin, dass alte Geschäftsmodelle und Gewohnheiten zerstört werden. Das erzeugt Widerstand, Desinformation, Populismus und Angst. Dafür sind wir Deutschen besonders empfänglich. Wir sehen weniger die Chancen, sondern mehr die Angst vor Veränderung.
Erneuerbare Energien kommen vor allem den Menschen dieses Landes zugute
Die Kritiker:innen sehen nicht, dass die Erneuerbaren Arbeitsplätze bringen. Es wird nicht gesehen, dass die Wertschöpfung aus dem Bau und Betrieb von Erneuerbaren für viel mehr Menschen verfügbar gemacht werden kann, als das mit fossilen Unternehmen jemals möglich war. Die haben ihre Gesellschafter in den Emiraten oder sonstwo zu bedienen.
Erneuerbare Energien hingegen steigern die regionale und nationale Wertschöpfung und kommen daher vor allem den Menschen dieses Landes zugute.
Vor 25 Jahren wurde Ihr Unternehmen – damals noch unter dem Namen Greenpeace Energy – gegründet, und zwar als Genossenschaft. So eine demokratische Form für ein Energieunternehmen war damals doch schon für sich allein eine Provokation gegenüber der oligopol beherrschten Branche?
1998 wurde der Strommarkt liberalisiert. Vorher hatte man nur die "Wahl", Strom vom regionalen Anbieter zu beziehen oder keinen.
Im neuen Marktrahmen startete Greenpeace eine Kampagne, um Leute zu finden, die bereit waren, mehr zu bezahlen für wirklich sauberen Strom ohne Atomenergie und Kohle.
So ein Herangehen hat Tradition bei Greenpeace. Das Motto hieß damals "Taten statt warten". Man wollte zeigen, dass Klimaschutz durch zivilgesellschaftliches Engagement funktioniert. So kamen auch das erste Drei-Liter-Auto und der erste FCKW-freie Kühlschrank von Greenpeace.
In dieser Tradition steht auch unser Unternehmen. Wir legen Wert auf niedrigschwellige Angebote. Bei uns kann man für einmalig 55 Euro Mitglied werden und seinen eigenen Stromversorger haben und selbst an der Energiewende teilhaben. Damit befördern wir Zustimmung und Akzeptanz für die Erneuerbaren. Heute sind wir mit über 42.000 Mitgliedern die größte Energiegenossenschaft in Deutschland.
Windkraft-Projekte haben inzwischen finanzielle Dimensionen von zweistelliger Millionenhöhe angenommen. Das können Bürgerinitiativen und Bürgerenergiegesellschaften kaum noch stemmen – im Unterschied zu den Anfangszeiten.
Das ist leider richtig. Deshalb bieten wir Bürgerenergiegesellschaften auch an, ihnen bei solchen Projekten zu helfen.
In Bayern haben wir so eine Kooperation zum Bau eines Windparks. Die dortige Bürgerenergiegenossenschaft konnte das gesamte Projekt nicht finanzieren, ist aber beteiligt. Das ist ein positives Signal.
Beim Repowering-Projekt Uetersen haben wir uns lange Zeit die Zähne ausgebissen. Dass es jetzt vorangeht, verdanken wir auch dem Umstand, dass eine lokale Bürgerenergiegenossenschaft nun mit im Boot ist. Wir hoffen, dass solche Beispiele Schule machen.
Vorreiter war Ihr Unternehmen auch beim Einsatz von Windstrom, um per Elektrolyse Wasserstoff zu gewinnen. Eine Pilotanlage dafür nahm GPE bereits 2013 zusammen mit dem Windprojektierer Enertrag im brandenburgischen Prenzlau in Betrieb. Der dort gewonnene Wasserstoff wurde herkömmlichem Erdgas beigemischt und als "Windgas" angeboten. Sehr erfolgreich war das nicht. Vielleicht hätten Sie das Produkt lieber "grünen Wasserstoff" nennen sollen?
Das sehe ich anders. Wir haben das Thema aus der Bedeutungslosigkeit geholt. Als uns 2011 die Windgas-Idee kam, gab niemand Wasserstoff noch eine Zukunft. Wir wollten die Sache wieder nach vorn bringen und legten deshalb das Produkt "Pro Windgas" auf. Damals gab es allerdings kein Geschäftsmodell für Wasserstoff, das muss man heute einräumen.
Nicht zuletzt durch uns hat sich aber einiges geändert. Wasserstoff gilt als mächtigster Speicher von erneuerbarem Strom, der hilft, wichtige Industrien grün zu machen. Aber immer noch beruht der Fördermechanismus für grünen Wasserstoff darauf, dass Zuschüsse für Investitionen gewährt werden. Das hilft nicht viel, um dann den Betrieb der Elektrolyseure aufrechtzuerhalten.
Bei der aktuellen Wasserstoff-Förderung geht es vor allem um möglichst große Anlagen
Gegenwärtig werden oft sehr große Wasserstoff-Projekte gefördert. Bei denen muss man sich fragen, ob es wirklich darum geht, preiswerten überschüssigen erneuerbaren Strom, der sonst keine Abnehmer hat, in Wasserstoff umzuwandeln.
Nach meinem Eindruck geht es bei der aktuellen Wasserstoff-Förderung vor allem darum, möglichst große Anlagen zu bauen, ohne Rücksicht auf die Überlastung der Netze.
Erfolg hat Wasserstoff unserer Ansicht nach dann, wenn vor allem kleine, dezentrale Anlagen realisiert werden. Diese können dann auch zur Entlastung der Stromnetze, zur Marktintegration der Erneuerbaren und zur Resilienz insgesamt beitragen.
Sie können nicht nur Überschussstrom verwerten, sondern erzeugen auch nutzbare Abwärme, die dezentral die Dekarbonisierung der Wärme voranbringen kann. Diese dezentrale Erzeugung von Wasserstoff wird momentan leider noch nicht gefördert oder sinnvoll angereizt, aber wir arbeiten politisch darauf hin.
Die Ökostrombranche würde die Millionen Kilowattstunden Strom, die derzeit abgeregelt und ab 2025 größtenteils auch nicht mehr vergütet werden, liebend gern in die Wasserstofferzeugung stecken oder in andere sogenannte Kopplungsprodukte wie Wärme oder Mobilität und damit fossile Energien ersetzen. Gerade hier stockt die Energiewende sichtbar.
Lange ging es um den reinen Ausbau, jetzt geht es vor allem darum, ein gutes Marktdesign aufzusetzen und damit die wichtigen Millionen Kilowattstunden für Flexibilitäten wie Batteriespeicher und Wärmepumpen nutzbar zu machen. Das Problem ist dabei nicht die Erzeugung erneuerbarer Energien, sondern die bislang verschlafenen Anreize für mehr Flexibilität im Stromsystem.
Ein beliebtes Narrativ, um Zweifel an einem zu hundert Prozent erneuerbaren System zu säen, verbreitete schon 2014 der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel von der SPD. Gleichzeitig aus Atomkraft und Kohle auszusteigen, sei ein Fehler gewesen, sagte Gabriel damals. War der doppelte Ausstieg nicht doch eine Überforderung?
Ich wüsste nicht, wann es diese Überforderung gegeben haben soll. Deutschland hat nach wie vor eines der sichersten Stromsysteme der Welt mit den kürzesten Ausfallzeiten. Etwa in Frankreich, wo massiv auf Atomenergie gesetzt wird, sind die Kraftwerke permanent kaputt.
Und alle, die heute in Deutschland Kohlekraftwerke betreiben, gehen mehr oder weniger davon aus, dass sie da spätestens 2030 rauswollen. Den Atomstrom haben wir komplett durch Erneuerbare substituiert und dazu auch noch die CO2-Emissionen gesenkt.
Und wir steigen ja nicht von heute auf morgen, sondern innerhalb einiger Dekaden aus einem System aus, das mehr als hundert Jahre alt ist. Das schaffen wir.
1,4 Billionen für unseren Beitrag gegen den Klimawandel sind ein sehr guter Deal
Die Energiewende ist ein dickes Brett. Die letzten Prozente auch zu schaffen, ist eine sehr große Herausforderung, aber der doppelte Ausstieg ist nicht zu optimistisch gedacht, sondern absolut realistisch.
Vor einigen Wochen verkündete der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Klimaneutralität würde uns 1,4 Billionen Euro kosten. Die Gegenrechnung ist: Jedes Jahr importiert Deutschland Energie für weit über 100 Milliarden Euro, was im Wesentlichen fossile Energieträger sind.
Schaffen wir jetzt ein Energiesystem, wo die Wertschöpfung durch Erneuerbare weitgehend im Lande stattfindet, ersparen wir uns den Großteil dieser Milliardensumme, die wir derzeit noch ins Ausland überweisen. Schon hiermit wären nicht nur die 1,4 Billionen in weniger als zwanzig Jahren rechnerisch erreicht – unser Land wird zugleich viel resilienter sein.
Aber das wichtigste Argument ist: 1,4 Billionen Euro für unseren Beitrag zur Begrenzung des Klimawandels sind ein sehr guter Deal!
Klingt es da nicht verrückt, dass Peter Altmaier 2013 für einen medialen Aufschrei sorgte, weil der damalige CDU-Umweltminister die Kosten der Energiewende auf eine Billion Euro taxiert hatte? In der Folge wurde zum Beispiel die EEG-Vergütung auf Ausschreibungen umgestellt – angeblich, um die Kosten zu senken.
Heute dagegen halten die meisten die 1,4 Billionen, auf die der Industrieverband die Kosten summiert, für gut angelegtes Geld. Zeigt das nicht, wie verlogen die Kostendebatte von Gegnern der Energiewende geführt wird?
Tatsächlich – schon oft wurde versucht, die Energiewende zu skandalisieren. Das verfing am Ende aber nicht, weil die Argumente dafür viel zu stark sind.
Tatsächlich sind Klimaneutralität und Energiewende ein riesiges Konjunkturprogramm. Wir dürfen doch nicht nur fragen, was es kostet, sondern müssen fragen, ob sich die Investition lohnt.
Die Energiewende ist eines der besten Geschäfte, die wir je gemacht haben werden. Dabei geht es noch nicht mal um Profitabilität, sondern um den Erhalt einer lebenswerten Erde.
Als Greenpeace Energy vor 25 Jahren gegründet wurde, geschah das in der Hoffnung, dass die Energiewende klappen könnte. Heute wissen wir, dass hundert Prozent Erneuerbare möglich sind. Ist das der Unterschied?
Das ist ein wirklich wesentlicher Unterschied. Damals fehlte uns noch die Technologie. Photovoltaik war die teuerste Energieerzeugung, wahrscheinlich gleich hinter der Kernfusion. Keiner hatte eine Vorstellung davon, wie günstig Photovoltaik werden könnte. Heute gibt es keine günstigere Stromerzeugung.
Diese Entwicklung kam nur zustande, weil es in Deutschland das Erneuerbare-Energien-Gesetz gab und darauf aufbauend eine globale Produktion von Solarmodulen entstand, mit entsprechenden Lerneffekten und Effizienzgewinnen.
Auch der renommierte Energieexperte Felix Matthes sagte kürzlich in einem Mediengespräch sinngemäß, das deutsche EEG habe letztlich den globalen Solarboom angestoßen.
Das EEG war wahrscheinlich eines der besten Investments, die es je gegeben hat, und das als Gesetz. Mit Blick auf die nächsten Jahre heißt es jetzt: Kurs halten beim Ausbau der Erneuerbaren, die Regulatorik auf mehr Flexibilität ausrichten und auch die Wärmewende nicht vergessen.