Frankreichs Atomwirtschaft kommt nicht aus der Krise. Die Verfügbarkeit des AKW-Parks könne im Winter noch geringer sein als bislang erwartet – so lautet die aktuelle Warnung von Xavier Piechaczyk, Chef des nationalen Stromnetzbetreibers RTE.
Man sei weiterhin "in einer Situation besonderer Wachsamkeit", sagte Piechaczyk jetzt in einem Interview mit dem Sender Radio Classique. Es bestehe die Gefahr, dass es in den Regionen zu tagelangen Stromausfällen kommen könne.
In Frankreich, dem Land mit dem weltweit höchsten Atomstrom-Anteil, sind derzeit von 56 Atomreaktoren nur 29 mit voller Leistung und drei weitere im Teillastbetrieb am Netz. Die Gründe: Wartungsarbeiten, die länger dauern als geplant, sowie Reparaturen an Notkühlsystemen zweier AKW-Typen, in denen Risse festgestellt wurden.
Im September hatte das Energieministerium in Paris noch mitgeteilt, der AKW-Betreiber Électricité de France (EDF) habe sich verpflichtet, "alle Reaktoren bis zum Winter wieder in Betrieb zu nehmen". Diese Ansage ist offensichtlich Makulatur – obwohl EDF inzwischen sogar Dutzende Schweißer mit Spezialausbildung aus den USA eingeflogen hat, um die Reparaturen an den sicherheitsrelevanten Kühlleitungen schneller abschließen zu können.
Kritisch ist die Lage im Nachbarland, weil dort rund ein Drittel der Gebäude elektrisch beheizt wird. Zum Vergleich: In Deutschland sind es nur 2,6 Prozent. Zuletzt profitierte EDF davon, dass die Witterung von Anfang Oktober bis Anfang November relativ mild war und der Stromverbrauch auch wegen niedriger Industrieproduktion knapp sieben Prozent unter dem Durchschnitt der Vor-Corona-Jahre lag.
Schon ein normaler Winter könnte das Stromsystem überlasten, von einem kalten Winter ganz zu schweigen.
Die Atomstromproduktion in Frankreich sinkt wegen der alternden Reaktorflotte schon seit einigen Jahren. Der historische Höchstwert wurde 2005 mit 430 Milliarden Kilowattstunden erreicht, 2021 waren es nur noch 360 Milliarden. In diesem Jahr wird nun mit prognostizierten 275 Milliarden ein neues Tief erreicht.
Frankreich hat sich deswegen vom Stromexport- zum -importland entwickelt und muss Elektrizität unter anderem aus Deutschland einführen. Die Ampel-Bundesregierung hat die Laufzeitverlängerungen für die drei noch am Netz befindlichen AKW unter anderem mit der Krise auf dem französischen Strommarkt begründet. Auch deutsche Gaskraftwerke laufen deswegen häufiger.
Experte warnt vor Sicherheitsproblemen
Der renommierte AKW-Experte Mycle Schneider warnte unterdessen davor, dass die Situation in Frankreich bei einem kalten Winter "absolut kritisch" werden könne. Schneider glaubt nicht, dass die Probleme der Atombranche mit einer Reparatur der betroffenen Notkühlsysteme behoben sind. Das Grundproblem sei ein "degradierter" Kraftwerkspark und ein strikter Sparkurs des Betreibers, weswegen unter anderem Ersatzteile und Personal fehlten. Die Risse seien "nur obendrauf" gekommen.
Der Weiterbetrieb der französischen Atommeiler gehe zunehmend auf Kosten der Sicherheit, befürchtet Schneider, der Herausgeber des jährlichen World Nuclear Industry Status Report ist und in Frankreich lebt.
Als Beispiel führt er die Absicht des EDF-Konzerns an, das nahe der deutschen Grenze stehende AKW Cattenom trotz auch dort festgestellter Risse schnell wieder hochzufahren und die Schäden erst bei einer turnusmäßigen Abschaltung 2023 zu reparieren. Die Atomaufsicht in Paris habe allerdings eine sofortige Reparatur vorgeschrieben. Der Meiler könne deswegen frühestens Ende Februar wieder als Netz genommen werden.
Um im herannahenden Winter Stromausfälle zu vermeiden, hat die Regierung in Paris Haushalte, Unternehmen und lokale Regierungen aufgefordert, Energie zu sparen. Erwartet der Netzbetreiber RTE konkret eine Stromknappheit, wird er drei Tage im Voraus einen Alarm ausrufen, mit dem die Kunden angehalten werden, den Verbrauch zu reduzieren.
Die Hoffnung ist, dass dies die für den Notfall vorgesehenen rotierenden Stromabschaltungen im Land vermeiden hilft.