Immer mehr Anträge auf Netzanschluss warten oft monatelang in den zuständigen Behörden auf ihre Bearbeitung. (Bild: Coco Parisienne/​Pixabay)

"Die Stromnetze sind das Herz-Kreislauf-System unserer Stromversorgung", wusste schon der einstige Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Um die Netze für die Energiewende zu rüsten, erklärte der CDU-Politiker den Netzausbau zur Chefsache. Auch Ampel-Kanzler Olaf Scholz (SPD) versprach mehr Tempo beim Ausbau. Der entscheidende Durchbruch blieb trotz der großen Worte aus.

Die Notwendigkeit des Netzausbaus, aber auch Strategien zur besseren Auslastung des Netzes seien schon kurz nach der Jahrtausendwende bekannt gewesen, bemängelt Thorsten Müller, Mitbegründer der Stiftung Umweltenergierecht. "Seitdem ist es im Schneckentempo vorangegangen – dabei ist Infrastruktur ein träges Phänomen und deshalb frühzeitiges und vorausschauendes Handeln erforderlich."

Zu den Leidtragenden des verschleppten Netzausbaus gehören nicht zuletzt Projektentwickler:innen für Erneuerbare-Energie-Anlagen. Anträge auf Netzanschluss warten immer häufiger monatelang auf Bearbeitung. Zwar gebe es viele progressive politische Vorstöße, sagt Torsten Levsen, Chef des Windparkentwicklers Denker & Wulf, aber "das Problem ist und bleibt der Netzausbau".

Mit einem vielversprechenden Lösungsvorschlag meldet sich nun der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) zu Wort. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE) in Kassel legte der Verband Anfang April eine Studie zu Netzverknüpfungspunkten vor. Eine effizientere Nutzung der bestehenden Infrastruktur könne den Netzanschluss deutlich beschleunigen, kommentierte der BEE die Ergebnisse.

An Netzverknüpfungspunkten (NVP) werden Kraftwerke an das Stromnetz angeschlossen. Das geschieht mithilfe von Umspannwerken, Umspannstationen und Schaltanlagen, um den erzeugten Strom auf die entsprechende Spannungsebene des angeschlossenen Netzes zu bringen. Doch diese Verknüpfungspunkte sind im deutschen Stromnetz ein rares Gut.

Der nächste freie Netzverknüpfungspunkt, so Studien-Mitautor Matthias Stark vom BEE, sei nicht selten über zehn Kilometer von einem geplanten Solar- oder Windpark entfernt und speise in ein Höchstspannungsnetz ein. Das erhöhe die Realisierungszeit vieler Anlagen und könne auch zu Kostensteigerungen führen, die besonders für kleinere Projekte nicht tragbar seien.

Der Vorschlag des BEE sieht deshalb eine gemeinsame Nutzung von Netzverknüpfungspunkten durch Erneuerbare sowie Anlagen zur Sektorkopplung und Speicherung vor. Mit einer sogenannten "Überbauung" – dem Anschluss von Wind- und Solaranlagen mit einer installierten Gesamtleistung, die die Anschlussleistung des Netzverknüpfungspunkts übersteigt – soll die Auslastung der Punkte um ein Vielfaches gesteigert werden.

Matthias Stark: "Damit können wir nicht nur den Netzanschluss und damit die Energiewende beschleunigen, sondern auch die Kosten für die Netzbetreiber durch eine effizientere Nutzung der bestehenden Infrastruktur und stabilere Stromeinspeisung senken."

Mehr Platz im Netz ohne extra Netzausbau

Die vom BEE vorgelegte Modellstudie vergleicht dabei verschiedene Szenarien.

Die ersten fünf Szenarien sind Referenzszenarien ohne Überbauung oder gemeinsamen Anschluss. Zwei Szenarien stellen Ausbauvarianten mit Bestands- und mit modernen Windkraftwerken dar. Drei weitere sind Photovoltaik-Szenarien mit unterschiedlicher Ausrichtung der Anlagen.

Die sechs folgenden Szenarien bilden dann unterschiedliche Überbauungen ab – winddominiert, ausgeglichen und solardominiert. Dabei rechnen drei Szenarien mit einer Überbauung von 150 Prozent der NVP-Anschlussleistung und drei mit 250 Prozent.

Grundlage der Studie sind modellierte Zeitreihen der Solar- und Windkraft-Erzeugung und daraus abgeleitete Zeitreihen der Erzeugung, der Netzeinspeisung, der Überschüsse, des freien Einspeisepotenzials und der Stromspeicherung (siehe Kasten).

Kombi-Nutzung eines Netzverknüpfungspunktes

Begriffe und Zusammenhänge in der Studie. (Bild: Fraunhofer IEE/​BEE)

Die EE-Erzeugung (Erneuerbare-Energie-Erzeugung) ergibt sich aus der Summe der Erzeugung aller an dem Netzverknüpfungspunkt (NVP) angeschlossenen Erneuerbaren-Anlagen.

Netzeinspeisung ist die Erzeugung, die ins Netz eingespeist werden kann. Sie entspricht der Erneuerbaren-Erzeugung abzüglich des Stroms, der über die NVP-Anschlussleistung hinausgeht.

Der EE-Überschuss umfasst all jenen Erneuerbaren-Strom, der über die Kapazität des Netzverknüpfungspunkts hinausgeht und nicht ins Netz eingespeist werden kann. Die Erzeugung abzüglich der Netzeinspeisung ist dann der Überschuss.

Das freie Einspeisepotenzial ergibt sich aus der Differenz der Netzeinspeisung und der NVP-Kapazität. Es ist also das Potenzial an Netzeinspeisung, dass nicht von der Erzeugung gedeckt werden kann.

Bei der Zeitreihe der Stromspeicherung wird ermittelt, wie viel Prozent des Erneuerbaren-Überschusses bei einer bestimmten Speicherleistung und -kapazität gespeichert werden kann.

Die Autor:innen nutzten Daten von Wettermodellen und Fernerkundung für die Jahre 2010 bis 2017. Flächendeckend für Deutschland wurden diese Szenarien in einem 36‑Quadratkilometer-Raster modelliert und an fünf Beispielstandorten detaillierter ausgewertet.

Ohne Überbauung liegt die Netzeinspeisung laut der Studie weit unter dem Potenzial des Netzverknüpfungspunktes. Während dessen Auslastung bei Solaranlagen zwischen elf und 14 Prozent und bei den Windkraft-Szenarien zwischen 17 und 43 Prozent liegt, lassen sich bei mittlerer Überbauung Werte bis 53 Prozent und bei starker Überbauung bis 70 Prozent erreichen.

Dazu lassen sich noch steuerbare Backup-Kraftwerke, etwa Biogasanlagen, integrieren. Diese könnten dann zugeschaltet werden, wenn das Einspeisepotenzial nicht voll ausgenutzt wird, heißt es in der Studie.

Statt bei jeder einzelnen Technologie die volle installierte Leistung vorzuhalten, könne bei einer solchen effizienten gemeinsamen Nutzung "nicht nur das Netz besser ausgenutzt, sondern auch für neue erneuerbare Projekte Platz im Netz geschaffen werden", schreiben die Studienautor:innen.

Wenig Überschuss trotz hoher "Überbauung"

In den Überbauungs-Szenarien kommt es natürlich auch zu Überschüssen. Wenn also tagsüber bei klarem Himmel starker Wind weht, wird mehr Strom erzeugt, als über den Netzverknüpfungspunkt eingespeist werden kann. Auch damit hat sich die Studie beschäftigt.

Bei einer mittleren Überbauung bis 150 Prozent kommt es laut den Autor:innen noch kaum zu Überschüssen. Solar- und Windkraftanlagen laufen nur selten parallel unter Volllast – der Überschuss liegt deshalb im Mittel über das gesamte Bundesgebiet unter einem Prozent der gesamten Stromerzeugung.

Dass Wind- und Solarenergie sich gut ergänzen, sei schon vorher klar gewesen, sagt Stark. Dass dieser Effekt so deutlich ausfalle, habe jedoch alle überrascht. Allein in den besonders windintensiven Küstengebieten könnten die Überschüsse auf drei Prozent anwachsen.

In den Szenarien mit besonders viel Windkraft können in Schleswig-Holstein allerdings bis zu 20 Prozent Überschuss entstehen. Die Überproduktion lässt sich deutlich senken, wenn Windkraft und Photovoltaik im gleichen Verhältnis installiert werden. Der Überschuss sinkt dann auch bei einer 250-prozentigen Überbauung auf zwei bis sechs Prozent.

Ko-Autor Stark: "Das wird automatisch dazu führen, dass wir dort Windkraft zubauen, wo viel Photovoltaik ist, und Photovoltaik zubauen, wo viel Wind ist." Dann gebe es eine gleichmäßigere Stromversorgung über das Bundesgebiet, was die Notwendigkeit für das Abregeln von Kraftwerken bei drohender Netzüberlastung reduzieren würde.

Auch bei diesem vergleichsweise geringen Überschuss gilt das Motto der Energiewende: "Nutzen statt Abregeln". Zwei Optionen präsentieren die Autor:innen, um die überschüssige Energie zu nutzen – Speichern und Sektorkopplung.

Bei einer Speicherung in Batterien kann der überschüssige Strom zu einem späteren Zeitpunkt wieder ins Netz eingespeist werden. Über die Sektorkopplung kann der Strom in der Wärmeversorgung oder in Elektrolyseanlagen zur Herstellung von grünem Wasserstoff eingesetzt werden. Der Wasserstoff würde wiederum dankbare Abnehmer in der Industrie finden.

Bei einer Überbauung von 150 Prozent seien Stromspeicher aufgrund des geringen Überschusses nur begrenzt sinnvoll, schreiben die Autor:innen. Bei 250 Prozent sei der Nutzen von Speichern hingegen "deutlich gegeben". In besonders windstarken Regionen und bei starker Überbauung ist der Überschuss so groß, dass Speicher laut Studie nicht ausreichen und zusätzliche Sektorkopplungstechnologien ökonomisch sinnvoll sind.

"Überschüsse sind dabei sogar von Vorteil, denn sie reizen den Bau von Speichern und Sektorenkopplungstechnologien zur weiteren Nutzung des Ökostroms an", argumentiert BEE-Präsidentin Simone Peter.

"Eine Win-win-win-Situation"

Vorteile hätte der Überbauungs-Vorschlag laut dem Erneuerbaren-Verband für die gesamte Energiewirtschaft. Für Projektierer könnte der Netzanschluss neuer Anlagen wesentlich schneller erfolgen. Dezentrale Erzeugungsanlagen wie Bioenergie könnten zudem einfacher ins Netz integriert werden.

Auch für die Netzbetreiber würde sich die gemeinsame Nutzung der Verknüpfungspunkte lohnen. Die bestehende Netzinfrastruktur könnte deutlich besser genutzt und ausgelastet werden. Die Speicherung der Überschüsse würde zudem eine stabilere Einspeisung ermöglichen und die Kosten für die Netzregulierung gingen nach unten. Vergangenes Jahr beliefen sich die Kosten zur Stabilisierung des Stromnetzes laut Bundesnetzagentur auf über drei Milliarden Euro. Simone Peter spricht deshalb von einer "Win-win-win-Situation".

Das deutsche Stromnetz

Mit 50 Hertz schwingt der Strom durch ein knapp zwei Millionen Kilometer langes Netzwerk an elektrischen Leitungen. Das deutsche Stromnetz erstreckt sich wie ein zweites Straßennetz – nur eben für Elektrizität – über das Land.

Es ähnelt in seinem Aufbau tatsächlich in gewisser Weise dem Straßennetz. Im Übertragungsnetz oder Höchstspannungsnetz wird die Energie – um die Verluste gering zu halten – bei 220 oder 380 Kilovolt Spannung über weite Strecken transportiert. Die Übertragungsnetze sind damit die Stromautobahnen.

Eine Ebene darunter liegen die Verteilnetze. Über Umspannwerke, sozusagen die Autobahn-Anschlussstellen, wird der Strom von den Übertragungsnetzen auf diese Hoch- und Mittelspannungsnetze transformiert und zu Städten und Industriestandorten transportiert. Von dort wird der Strom ein weiteres Mal auf Niedrigstromnetze transformiert und zu den einzelnen Haushalten in die Steckdosen geleitet.

Die Energiewende führt mit der Elektrifizierung von traditionell mit fossilen Brennstoffen versorgten Sektoren wie Verkehr oder Wärme nicht nur zu einem steigenden Strombedarf, sondern stellt auch neue Anforderungen an das Netz und seine Betreiber. Anstatt von oben nach unten – von wenigen Großkraftwerken, die an das Übertragungsnetz angeschlossen sind, zu den Endverbraucher:innen – müssen die Netzbetreiber auf allen Spannungsebenen ein Gleichgewicht von Verbrauch und Erzeugung ermöglichen. Kleinere und mittlere Windkraft- und Solaranlagen speisen in der Regel in Verteilnetze ein.

Diese Einschätzung wird von einem breiten Bündnis in der Energiewirtschaft mitgetragen. Rund 200 Vertreter der Branche unterstützen den Vorstoß – darunter der Übertragungsnetzbetreiber Amprion, die GLS Bank, das Energieversorgungsunternehmen Lichtblick und 23 Verbände aus der Energiewirtschaft.

Der Umsetzung steht rechtlich kaum etwas im Wege – nur zwei kleinere Paragrafen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG). Die Kanzlei Becker Büttner Held (BBH) hat zu den notwendigen gesetzlichen Änderungen im Auftrag des BEE ein Gutachten erstellt.

Zur gesetzlichen Verankerung müsste danach ein neuer Paragraf 8a über die "Mitnutzung eines bestehenden NVP zum Anschluss zusätzlicher elektrischer Leistung" und einen diesbezüglichen "Informationsanspruch" ins EEG eingefügt werden.

Außerdem wäre eine kurze Ergänzung von Paragraf 11 Absatz 1 nötig. Damit würde nur noch ein "eingeschränkter Abnahmeanspruch" gelten. Mit anderen Worten, Netzbetreiber müssten bei Nichtabnahme des produzierten Stroms keine Angst mehr haben, dass die Betreiber Schadensatz geltend machen.

Die Bundesregierung solle diesen "minimalen Anpassungen" noch dieses Jahr zustimmen, forderte Simone Peter. Ob das wirklich alles so reibungslos laufen wird, wie es sich der BEE vorstellt, muss sich noch zeigen.

So ganz neu ist das Thema auch gar nicht. Schon 2022 berichtete etwa der Wiesbadener Projektierer Abo Wind von eigenen Kombiprojekten mit Wind, Sonne und Speichern, um die Netzkapazitäten besser zu nutzen. Auch Matthias Stark sind frühere Pilotprojekte bekannt. Allerdings standen dabei seines Wissens immer nur zehn bis 20 Prozent Überbauung im Raum.

Was der BEE mit der neuen Studie nun allerdings liefert, sind eine umfassende Quantifizierung der gemeinsamen NVP-Nutzung für das gesamte Bundesgebiet und eine Möglichkeit zur rechtlichen Umsetzung.

Für Thorsten Müller von der Stiftung Umweltenergierecht kann die effizientere Nutzung der Netzverknüpfungspunkte jedoch nur eine, wenn auch sehr sinnvolle, Überbrückungsmaßnahme sein. Sie dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Netzausbau und zusätzliche Maßnahmen zur besseren Auslastung der bestehenden Netze weiterhin oberste Priorität haben müssten, mahnt der Jurist.

Nach dem Nadelöhr Netzanschluss kommt das Nadelöhr Netz

Vor wenigen Tagen ließ eine Nachricht aus Oranienburg bei Berlin aufhorchen. Wegen Kapazitätsengpässen im Verteilnetz zog die Stadt die Notbremse und verkündete, neue E‑Ladesäulen und Wärmepumpen nicht mehr genehmigen zu wollen. Die Netze stoßen bei der zunehmenden dezentralen Elektrifizierung an ihre Grenzen.

Zwar hat die Bundesnetzagentur mitgeteilt, dass es bisher keine weiteren vergleichbaren Fälle in Deutschland gebe und Planungsfehler schuld an der Lage in Oranienburg seien. Zahlreiche Expert:innen sehen allerdings keinen Grund für Entwarnung. So warnte der Energieexperte Kai Strunz von der Technischen Universität Berlin im Gespräch mit dem ZDF, in Zukunft könne es durchaus auch in anderen Abschnitten des Verteilnetzes zu Überlastungen kommen.

Dass mit dem Netzanschluss nicht alle Probleme gelöst werden, ist natürlich auch dem BEE bewusst. So mahnt Matthias Stark mit Blick in Richtung Netzbetreiber: "Unser Vorschlag löst die Probleme beim Netzanschluss. Aber natürlich muss auch weiterhin der Netzausbau priorisiert werden, damit die angeschlossenen erneuerbaren Energien auch ins Netz integriert werden können."

Für einen neuen Anlauf hatte das Bundeswirtschaftsministerium Mitte April Akteure aus verschiedenen Branchen zum Netzanschlussgipfel geladen. Bei dem Treffen wollte man sich der Aufgabe stellen, "das Stromnetz bis zum letzten Kilometer zuverlässig auszubauen", wie Minister Robert Habeck (Grüne) erklärte. Dreh- und Angelpunkt sei der Ausbau des Verteilnetzes.

Ein Treffen wird nicht reichen, um den Knoten aus Politik, Bundesnetzagentur und Netzbetreibern zu lösen. Dennoch lobten zahlreiche Stimmen aus der Energiewirtschaft im Anschluss die konstruktiven Diskussionen und die vom Ministerium vorgestellten Pläne.

Auch die BEE-Studie fand auf dem Gipfel Gehör, erzählt Matthias Stark. Habeck habe den Vorstoß gelobt und zugesagt, ihn kommenden Sommer in Angriff nehmen zu wollen.