Der Verkauf von E‑Autos stockt. Das Deutschlandticket wird 2025 teurer. Der deutsche Wald ist keine CO2-Senke mehr, sondern gibt laut der jüngsten Inventur schon seit Jahren das Klimagas ab.
Auf der politischen Agenda ist Klimaschutz weit nach hinten gerutscht. In manchen Ost-Bundesländern erscheint es bei Umfragen gar nicht mehr als Thema, das für die Wählerinnen und Wähler von Belang sein könnte.
In dieser Lage legte der Thinktank Agora Energiewende am Dienstag die dritte Auflage seiner Studie "Klimaneutrales Deutschland" vor. Die Vorgängerstudie war im Frühjahr 2021 erschienen. Seitdem sei Deutschland in eine neue Phase des Klimaschutzes getreten – die der Umsetzung, erklärte Agora-Chef Simon Müller bei der Präsentation der Neuauflage.
Über die gesellschaftlich deutlich verschlechterte Lage ist sich Müller im Klaren. Deutschland stehe vor einer Reihe großer Herausforderungen, betonte er ein ums andere Mal. So werde der Zeitrahmen, um Klimaneutralität herzustellen, immer knapper. Das erfordere Kreativität, Pragmatismus und auch ein Stück Hoffnung und Optimismus.
"Botschaft des Gelingens"
Aus seiner Sicht wird die aktuelle klimapolitische Debatte der Bedeutung des Themas nicht gerecht. "Es ist höchste Zeit, parteipolitische Gräben zu überwinden und über Legislaturperioden hinweg tragfähige Lösungen zu finden", forderte Müller.
Die neuerliche Studie möchte der Agora-Chef denn auch als eine "Botschaft des Gelingens" verstanden wissen. Es sei weiterhin möglich, die Ziele zu erreichen: 65 Prozent CO2-Reduktion bis 2030 und Klimaneutralität 2045.
Die Argumente dafür, dass Deutschland in etwas mehr als 20 Jahren klimaneutral sein kann, haben sich über die letzten Jahre kaum verändert. Nehmen wir die Finanzierbarkeit. Ein Großteil der nötigen Investitionen in die Infrastruktur stehe ohnehin an, heißt es bei Agora. Zur Erneuerung von Gebäuden, Industrie und Verkehrsmittel seien so oder so Aufwendungen nötig, die acht Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands entsprechen.
Für den Klimaschutz seien darüber hinaus nur zusätzliche Investitionen von drei Prozent der Wirtschaftsleistung notwendig, gibt die Studie an. "Deutschland kann sich die Klimaneutralität leisten", betonte Simon Müller am Dienstag.
Viele der Investitionen rechneten sich auch bereits, wirbt der Thinktank weiter. So seien mit Blick auf die gesamte Lebensdauer E‑Autos schon heute günstiger als Benzin- oder Dieselfahrzeuge.
Mehr Erneuerbare – weniger Fossile
Auch zu den gerade heiß diskutierten Stromkosten hat Agora Energiewende eine gute Botschaft parat. Die künftigen Investitionen in Erneuerbare und Stromnetze könnten laut der Studie zu 90 Prozent aus den Erlösen am Strommarkt und aus den Netzentgelten finanziert werden.
Ganz so trivial ist das aber nicht. Damit die Stromkosten stabil bleiben und künftig vielleicht sogar sinken, geht die Studie davon aus, dass die erneuerbare Erzeugung von derzeit knapp 220 Milliarden Kilowattstunden bis 2045 auf mehr als 1.000 Milliarden Kilowattstunden steigt, sich also nahezu verfünffacht.
Die entscheidende Frage sei hier, erläuterte Müller, ob es zu schaffen ist, den Verbrauch von Grünstrom nicht einfach zu steigern, sondern damit fossile Energien in den Sektoren Verkehr, Gebäude und Industrie zu ersetzen. "Wenn das gelingt, verteilen sich die Systemkosten auf eine viel größere Stromnachfrage. Das ist der entscheidende Hebel, um die Kosten für die Kilowattstunde nicht nur konstant zu halten, sondern auch nach und nach abzuschmelzen", betonte Müller.
Es kommt also nicht nur darauf an, die Erneuerbaren massiv auszubauen, sondern vor allem, mit dem Ökostrom dann fossile Energien zu ersetzen. Nur dann sinken eben auch die Kosten pro Kilowattstunde Erneuerbare.
Zwar nimmt die Agora-Studie an, dass Deutschland 2045 keine fossile Energie mehr importiert – bei Klimaneutralität ist das logisch. Aber auch der Thinktank geht davon aus, dass der grüne Wasserstoff und seine Derivate wie Ammoniak, die dann die Fossilen ersetzen sollen, künftig zu rund zwei Dritteln importiert werden.
Direkte Hilfen statt Klimageld
Gegenüber früher erhält Biomasse einen größeren Stellenwert. Diese könne Rohöl in der Chemieindustrie ersetzen, betonte Frank Peter, Chef des Schwester-Thinktanks Agora Industrie, am Dienstag. Das habe den Vorteil, sowohl lokale Wertschöpfung zu schaffen als auch Klimaneutralität in der Industrie zu ermöglichen.

Die Biomasse soll Peter zufolge auch künftig weitgehend aus einheimischer Erzeugung kommen. Dazu sei es aber nötig, den Fleischkonsum und damit die Flächen für Tierhaltung und Futterproduktion zu reduzieren, machte er deutlich. Auf den so gewonnenen Flächen sollten dann Agrarforstplantagen mit schnellwachsenden Gehölzen für die nötige Erzeugung von Biomasse sorgen.
Beim Verkehr haben sich die Ansprüche der Prognostiker an die Politik ziemlich reduziert. Um den Hochlauf der E‑Mobilität zu beschleunigen, sollte sich zum einen die Kfz-Steuer stärker an den CO2-Emissionen orientieren, fordert der Thinktank.
Zum anderen sollte beim Dienstwagenprivileg der pauschale Steuersatz für Benziner und Diesel von derzeit einem auf anderthalb Prozent erhöht werden – Verbrenner würden so im Vergleich zu reinen E‑Autos teurer.
Eine weiterentwickelte Sicht hat der Thinktank auch auf die politischen Instrumente. Es gehe um einen "Policy-Mix", betonte Müller hierzu.
"Weder CO2-Bepreisung noch Marktregulierung oder Förderung können für sich allein einen Rahmen schaffen, der finanzielle Anreize bietet, Investitionssicherheit schafft und den sozialen Ausgleich absichert", erklärte der Agora-Chef. Alle Instrumente hätten auch Nachteile, die sehr stark hervorträten, setze man die Instrumente einseitig ein.
Geht es um den sozialen Ausgleich, steht das lange diskutierte Klimageld für den Thinktank nicht mehr an erster Stelle.
Es sei zwar richtig, dass Menschen mit hohem Einkommen viel CO2 ausstoßen und dadurch von einem hohen CO2-Preis stark betroffen wären, sagte Müller, man sehe aber schon jetzt, dass sich überdurchschnittlich Verdienende und Vermögende aus den Belastungen gewissermaßen "herausinvestieren" können. Er sehe da keinen Grund für weitere Ausgleichszahlungen.
Beim Übergang in die Klimaneutralität, so Müller weiter, werde es immer auch Härten geben, die es abzupuffern gelte. Als sozialen Ausgleich plädiert der Thinktank eher für direkte Hilfen. Dafür sind in der Studie jährlich etwa zehn Milliarden Euro eingeplant.